|
[81] Es ist ferner unrichtig, wenn man das blosse Haben zur Thätigkeit rechnet, oder die Thätigkeit zu dem blossen Haben, wie wenn man z.B. das Wahrnehmen eine durch den Leib gehende Bewegung nennt; denn das Wahrnehmen ist ein blosses Haben, die Bewegung aber ein Thätigsein. Ebenso fehlerhaft wäre es, wenn man das Gedächtniss ein festes Haben nennte; denn das Gedächtniss ist kein blosses Haben, sondern vielmehr eine Thätigkeit.
Man fehlt auch dann, wenn man das blosse Haben zu den mit ihm verbundenen Vermögen rechnet, z.B. wenn man die Sanftmuth eine Macht über den Zorn, und die Tapferkeit und Gerechtigkeit eine Macht gegen die Furcht und die Gewinnsucht nennt; denn tapfer und[81] sanftmüthig wird der Leidenschaftslose genannt; seiner selbst mächtig aber der, welcher zwar in einer Leidenschaft ist, aber von ihr nicht hingerissen wird. Allerdings verbindet sich mit der Tapferkeit und der Sanftmuth eine solche Macht, dass, wenn die Leidenschaft entsteht, man von ihr nicht hingerissen wird, sondern sie zügelt; indess ist dies nicht das Wesen des Tapfer – und des Sanft-müthig-seins, sondern dies besteht darin, dass man überhaupt von solchen Leidenschaften nicht ergriffen wird.
Mitunter wird auch ein irgendwie Beifolgendes als Gattung der aufgestellten Art gesetzt, wie z.B. der Schmerz als die Gattung des Zornes und die Annahme als Gattung des Glaubens. Allerdings begleiten beide in gewisser Weise die genannten Arten, aber die Gattung derselben sind sie nicht; denn der Zornige hat zwar Schmerz, aber der Schmerz ist in ihm dem Zorn vorausgegangen; der Zorn ist nicht die Ursache des Schmerzes, sondern der Schmerz Ursache des Zornes, also ist der Zorn überhaupt keine Art des Schmerzes. Ebenso ist der Glaube keine blosse Annahme, denn auch der, welcher noch nicht glaubt, kann das Gleiche annehmen; und doch wäre dies nicht möglich, wenn der Glaube eine Art des Annehmens wäre. Denn es kann etwas nicht in derselben Gattung bleiben, wenn es seine Art ganz ablegt, wie ja auch dasselbe Geschöpf nicht das eine Mal Mensch sein und das andere Mal Nicht-Mensch sein kann. Wollte aber jemand behaupten, dass der, welcher etwas annimmt, nothwendig es auch glaube, so stellt er die Annahme und den Glauben einander gleich, so dass auch dann die Annahme nicht die Gattung sein kann, denn die Gattung muss sich weiter erstrecken, als die Art.
Auch muss man prüfen, ob in einem Gegenstande als solchem sowohl die aufgestellte Art, wie die auf gestellte Gattung von Natur enthalten sein kann; denn das, in welchem die Art enthalten ist, in dem ist auch die Gattung enthalten. So ist in dem Weissen auch die Farbe und in dem, welcher die Sprachwissenschaft inne hat, auch die Wissenschaft enthalten. Sollte nun jemand die Scham eine Furcht und den Zorn einen Schmerz nennen, so würde die Art und die Gattung nicht in demselben Gegenstande enthalten sein; denn die Scham ist in dem denkenden Theile der Seele, die Furcht aber in dem eifrigen[82] Theile enthalten, und der Schmerz ist in dem begehrlichen Theile enthalten (denn in diesem ist auch die Lust enthalten), der Zorn aber im eifrigen. Deshalb sind die genannten keine Gattungen, da sie von Natur nicht in denselben Zuständen, wie ihre Arten, enthalten sind. Aehnlich wäre der Fehler, wenn man die Liebe in den begehrlichen Theil der Seele stellen wollte, denn sie würde dann kein Wollen sein, da alles Wollen in dem denkenden Theile der Seele enthalten ist. Dieser Gesichtspunkt ist auch für das nebensächlich Ausgesagte brauchbar; denn das Nebensächliche und das, dem es anhaftet, müssen in demselben Gegenstande zusammentreffen, und wo dies nicht der Fall ist, erhellt, dass das Nebensächliche dem Gegenstande nicht zukommt.
Ferner ist zu prüfen, ob nicht die aufgestellte Art nur in Bezug auf etwas von sich an der aufgestellten Gattung Theil nimmt. Denn die Art kann nicht nur in etwas an der Gattung Theil nehmen; so ist der Mensch nicht blos in etwas von sich ein Geschöpf und ebenso die Sprachlehre nicht blos in etwas eine Wissenschaft. Dies gilt auch für alle anderen Fälle. Man muss deshalb Acht haben, ob Einzelne der betreffenden Art nur in etwas von sich an der Gattung Theil nehmen, z.B. wenn man sagt, das Geschöpf sei ein Wahrnehmbares oder Sichtbares; denn in Bezug auf seinen Körper ist es dies wohl, aber nicht in Bezug auf seine Seele; deshalb ist das Sichtbare und das Wahrnehmbare nicht die Gattung des Geschöpfes.
Mitunter wird auch nicht bemerkt, dass man bei Aufstellung von Sätzen das Ganze des Gegenstandes in einen Theil desselben verlegt, z.B. wenn man das Geschöpf für einen beseelten Körper erklärt; denn der Theil kann durchaus nicht von dem Ganzen ausgesagt werden, und deshalb kann auch der Körper nicht die Gattung des Geschöpfes sein, da er nur ein Theil desselben ist.
Man muss auch Acht haben, ob nicht etwas Tadelnswerthes oder Unzulässiges als ein Vermögen behandelt und in das Können gesetzt worden ist; z.B. wenn ein Sophist, oder ein Verleumder, oder ein Dieb für einen solchen erklärt wird, welcher vermögend sei, fremdes Gut wegzunehmen, oder zu verleumden, oder Scheingründe aufzustellen; denn keiner der Genannten heisst deshalb[83] so, weil er vermögend ist, so etwas zu thun, da auch die Gottheit und der sittliche Mensch vermögen das Schlechte zu thun, ohne dass sie deshalb von jener Art sind, vielmehr werden alle schlechten Menschen so genannt, weil sie das Schlechte vorziehen. Auch ist jedes Vermögen wünschenswerth; dies gilt auch von den Vermögen der schlechten Menschen, und deshalb sagt man, dass auch die Gottheit und die guten Menschen diese Vermögen haben und das Schlechte thun können. Deshalb gehören die Vermögen nicht zu einer tadelnswerthen Gattung; denn wäre dies der Fall, so würde etwas Tadelnswerthes wünschenswerth sein, weil gewisse Vermögen dann tadelnswerth wären.
Auch achte man darauf, ob etwas, was an sich ehrenwerth oder wünschenswerth ist, auch zu dem Vermögen gezählt worden oder als ein Mögliches oder zu Thuendes aufgestellt worden ist; denn jedes Vermögen und alles Mögliche und Ausführbare ist nur um eines andern willen wünschenswerth.
Auch prüfe man, ob etwas, was zu zwei oder mehr Gattungen gehört, nur in eine derselben gestellt worden ist; denn Manches kann man nicht in nur eine Gattung stellen, wie z.B. den Betrüger und Verleumder; denn der Betrüger und Verleumder ist weder ein solcher, welcher etwas will, aber auszuführen nicht vermag, noch einer, der dies vermag, aber es nicht will, sondern nur derjenige, welcher beides ist. Des halb muss man solche Gegenstände nicht in nur eine, sondern in beide Gattungen stellen.
Mitunter wird umgekehrt die Gattung wie ein Art-Unterschied und der Art-Unterschied wie eine Gattung behandelt; so wird das Erstaunen als ein Uebermass des Verwunderns und der Glaube als ein hoher Grad der Annahme bezeichnet, obgleich doch weder das Uebermass noch der hohe Grad die Gattung, sondern nur der Art-Unterschied sind. Vielmehr wird das Erstaunen ein übermässiges Verwundern und der Glaube ein starkes Annehmen sein; deshalb bilden das Verwundern und die Annahme die Gattung und das Uebermass und der hohe Grad den Art – Unterschied. Auch würde, wenn man das Uebermass und den hohen Grad als die Gattung aufstellen wollte, auch das Leblose glauben und sich wundern[84] können; denn der hohe Grad und das Uebermass wohnt jedem Gegenstande ein, dessen hoher Grad oder Uebermass es ist. Wenn deshalb das Erstaunen ein Uebermass des Wunderns ist, so wird dem Wundern das Erstaunen einwohnen, also das Wundern sich erstaunen. Ebenso wird der Glaube der Annahme einwohnen, wenn er ein starker Grad der Annahme ist und daher die Annahme glauben. Auch wird es dem, der solches aufstellt, begegnen, dass er den hohen Grad hochgradig und das Uebermass übermässig nennt; denn der Glaube ist dann etwas Hochgradiges; ist nun der Glaube ein hoher Grad, so würde der hohe Grad hochgradig sein. Ebenso wird das Erstaunen übermässig sein; ist also das Erstaunen ein Uebermass, so wäre das Uebermass übermässig. Beides kann aber nicht wohl sein, so wenig, wie die Wissenschaft ein Wissbares und die Bewegung ein Bewegtes ist.
Manchmal liegt der Fehler darin, dass ein Zustand des Gegenstandes als Gattung des Gegenstandes gesetzt wird; dies thut z.B. der, welcher die Unsterblichkeit für ein ewiges Leben erklärt; denn die Unsterblichkeit scheint ein Zustand, oder ein mit dem Leben Verbundenes zu sein, wie sich ergeben dürfte, wenn man anerkennt, dass jemand aus einem Sterblichen ein Unsterblicher geworden; denn Niemand wird dann sagen, dass er dann ein anderes Leben begonnen habe, sondern dass in demselben einen Leben nur die Veränderung eines Zustandes stattgehabt habe oder sich damit verbunden habe. Deshalb ist das Leben nicht die Gattung von der Unsterblichkeit.
Auch ist es ein Fehler, wenn man das, welches etwas erleidet, zur Gattung dieses Erleidens macht; z.B. wenn man den Wind für eine bewegte Luft erklärt; vielmehr ist es eine Bewegung der Luft; denn es bleibt dieselbe Luft, mag sie bewegt werden oder ruhen, deshalb ist der Wind überhaupt keine Luft; da es sonst auch einen Wind bei unbewegter Luft gäbe, weil ja dieselbe Luft beharrt, welche der Wind sein soll. Dasselbe gilt für andere Fälle. Wenn man nun auch in diesem Falle zugeben kann, dass der Wind eine bewegte Luft ist, so darf man doch nicht in allen anderen Fällen zulassen, dass die Gattung unrichtig bezeichnet wird, sondern nur diejenigen Sätze als richtig anerkennen, wo die Gattung richtig angegeben worden ist. Denn mitunter wird[85] sonst der Satz die Wahrheit nicht treffen, z.B. bei dem Koth und dem Schnee, denn den Schnee nennt man gefrornes Wasser und den Koth mit Feuchtem gemengte Erde; allein weder der Schnee ist Wasser noch der Koth Erde, und deshalb können sie auch beide nicht die Gattungen von jenen sein, da die Gattung immer in Wahrheit von der Art sich muss aussagen lassen. Ebenso ist der Wein kein gegohrenes Wasser, wie Empedokles sagt: »das im Holze gegohrene Wasser«. Denn der Wein ist überhaupt kein Wasser.
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
|
Buchempfehlung
Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.
112 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro