Achtes Kapitel

[119] Auch in Bezug auf das Mehr und Weniger hat man behufs Widerlegung eines Satzes zu prüfen, ob das Mehr des Eigenthümlichen etwa nicht das Eigenthümliche von dem Mehr des Gegenstandes ist; denn dann kann[119] auch das Weniger des Eigenthümlichen nicht das Eigenthümliche von dem Weniger des Gegenstandes sein, und dies gilt auch für das Wenigste und für das Meiste und für das Einfache der aufgestellten Eigenthümlichkeit und des aufgestellten Gegenstandes. Ist z.B. das mehr-Gefärbtsein keine Eigenthümlichkeit des vermehrten Körpers, so wird auch das weniger-Gefärbtsein keine Eigenthümlichkeit des verminderten Körpers sein und überhaupt das Gefärbtsein keine Eigenthümlichkeit des Körpers sein. Dagegen dient es der Begründung, wenn die Steigerung der aufgestellten Eigenthümlichkeit auch die Eigenthümlichkeit des gesteigerten Gegenstandes ist; denn dann wird auch das Weniger und das Geringste und das Höchste der aufgestellten Eigenthümlichkeit das Eigenthümliche des in gleicher Weise veränderten Gegenstandes sein, und ebenso wird die einfache Eigenthümlichkeit die des einfachen Gegenstandes sein. Ist also z.B. die gesteigerte Wahrnehmung das Eigenthümliche des Geschöpfes von höherem Grade, so wird auch dem niederen Geschöpfe eine niedere Wahrnehmung eigenthümlich zukommen; und dasselbe gilt auch für die Veränderung beider nach dem höchsten oder geringsten Grad hin und ebenso für dieselben, einfach aufgefasst.

Ebenso hat man bei der Widerlegung an dem einfachen Zustande zu prüfen, ob da die aufgestellte Bestimmung keineswegs als die Eigenthümlichkeit des aufgestellten Gegenstandes gelten kann; denn dann ist sie auch nicht die Eigenthümlichkeit, wenn die Bestimmung und der Gegenstand als ein Mehr oder Weniger oder als ein Höchstes oder Geringstes genommen werden. Ist also z.B. das Sittliche keine Eigenthümlichkeit des Menschen, so wird auch für ein Geschöpf, was mehr als der Mensch ist, das höhere Sittliche nicht die Eigenthümlichkeit sein. Dagegen dient es der Begründung, wenn das Einfache wirklich das Eigenthümliche des einfachen Gegenstandes ist, denn dann wird dies auch für das Mehr und Weniger, wie für das Höchste und Niedrigste beider der Fall sein. Ist also z.B. das in-der-Höhe-sich-Bewegen von Natur die Eigenthümlichkeit des Feuers, so wird dies auch für das Mehr von beiden von Natur gelten. In dieser Weise hat man auch in anderen Fällen nach allen diesen Richtungen die Prüfung anzustellen.[120]

Zweitens dient es zur Widerlegung, wenn eine angegebene Bestimmung nicht die Eigenthümlichkeit des aufgestellten Gegenstandes ist, obgleich hier mehr dafür spricht, denn dann wird dasselbe auch für die angegebene Eigenthümlichkeit eines anderen Gegenstandes gelten, wo weniger dafür spricht. Wenn z.B. das Wahrnehmen mehr das Eigenthümliche des Geschöpfes sein würde, als das Wissen das Eigenthümliche des Menschen, aber doch das Wahrnehmen keine Eigenthümlichkeit des Geschöpfes ist, so wird auch das Wissen keine Eigenthümlichkeit des Menschen sein. Dagegen dient es der Begründung, wenn in dem weniger wahrscheinlichen Falle die angegebene Bestimmung die Eigenthümlichkeit des Gegenstandes ist; denn dann wird auch in dem mehr wahrscheinlichen Falle die angegebene Bestimmung die Eigenthümlichkeit des Gegenstandes sein. Ist z.B. das von Natur Zahmsein weniger eine Eigenthümlichkeit des Menschen, als das Leben die Eigenthümlichkeit des Geschöpfes, ist aber das von Natur Zahmsein dennoch die Eigenthümlichkeit des Menschen, so wird auch das Leben die Eigenthümlichkeit des Geschöpfes sein.

Drittens dient es zur Widerlegung, wenn eine Bestimmung von dem einen Gegenstande mehr dessen Eigenthümliches sein müsste, als von dem andern und sie es dennoch von dem ersten nicht ist; denn dann wird sie es auch von dem letztem nicht sein; ja selbst wenn sie von dem ersteren das Eigenthümliche wäre, würde sie es doch deshalb nicht von dem letztem sein. So würde z.B. das Gefärbtsein mehr das Eigenthümliche der Oberfläche als des Körpers sein; nun ist es aber selbst von der Oberfläche nicht das Eigenthümliche, also noch weniger vom Körper; aber selbst wenn es das Eigenthümliche der Oberfläche wäre, so wäre es deshalb noch nicht das Eigenthümliche des Körpers. Für die Begründung kann jedoch dieser Gesichtspunkt nicht benutzt werden, denn ein und dieselbe Bestimmung kann nicht das Eigenthümliche von verschiedenartigen Gegenständen sein.

Viertens dient es zur Widerlegung, wenn das, was einem Gegenstande mehr eigenthümlich sein sollte, als ein anderes, es demnach nicht ist; denn dann wird auch das andere ihm nicht eigenthümlich zukommen. So würde es dem Geschöpfe eigenthümlicher zukommen, dass es wahrnimmt,[121] als dass es theilbar ist; ist nun aber das Wahrnehmen keine Eigenthümlichkeit desselben, so wird es auch das Theilbare nicht sein. Umgekehrt dient es zur Begründung, wenn das, was einem Gegenstande weniger als Eigenthümlichkeit zukommen sollte, doch eine solche von ihm ist; denn dann wird das mehr dazu Geeignete ebenfalls ihm eigenthümlich sein. So ist z.B. dem Geschöpfe es weniger eigenthümlich, wahrzunehmen, wie zu leben; ist nun aber jenes doch eine Eigenthümlichkeit des Geschöpfes, so ist auch das Leben eine solche.

Ferner dient es zur Widerlegung, wenn bei ähnlich sich verhaltenden Gegenständen die angegebene Bestimmung bei dem einen keine Eigenthümlichkeit desselben ist, denn dann wird die ähnliche Bestimmung bei dem ähnlichen Gegenstande auch keine Eigenthümlichkeit desselben sein. Wenn z.B. zu dem begehrlichen Theil der Seele das Begehren als Eigenthümliches sich ähnlich verhält, wie zu dem denkenden Theile der Seele das Denken, und wenn das Begehren nicht das Eigenthümliche des begehrlichen Theiles der Seele ist, so wird auch das Denken nicht die Eigenthümlichkeit des denkenden Theiles der Seele sein. Umgekehrt dient es zur Begründung, wenn unter gleichen Verhältnissen die eine Bestimmung ein Eigenthümliches ihres Gegenstandes bildet, denn dann wird dies auch für die anderen in Bezug auf ihren Gegenstand gelten. Verhält sich nämlich in Bezug auf Eigenthümlichkeit das Klage als das Oberste zu dem denkenden Theile der Seele wie das Massige als das Oberste zu dem begehrlichen Theil der Seele, und ist jenes wirklich eine Eigenthümlichkeit des denkenden Theiles der Seele, so wird auch letzteres eine Eigenthümlichkeit des begehrlichen Theiles der Seele sein.

Zweitens dient es zur Widerlegung, wenn bei ähnlichem Verhalten zweier Bestimmungen zu einem Gegenstande die eine Bestimmung nicht das Eigenthümliche des Gegenstandes ist; denn dann wird es auch die andere nicht sein. So verhält sich z.B. in Bezug auf Eigenthümlichkeit das Sehen und das Hören bei dem Menschen gleich; aber da das Sehen keine Eigenthümlichkeit des Menschen ist, so ist dies auch mit dem Hören nicht der Fall. Umgekehrt dient es zur Begründung, wenn bei gleichem Verhalten die eine Bestimmung eine Eigenthümlichkeit[122] des Gegenstandes ist; denn dann wird dies auch von der anderen gelten. Verhält sich z.B. in Bezug auf Eigenthümlichkeit der begehrliche Theil der Seele ursprünglich ebenso wie der denkende Theil, und ist der begehrliche Theil ursprünglich eine Eigenthümlichkeit der Seele, so ist es auch ursprünglich der denkende Theil.

Drittens dient es der Widerlegung, wenn bei einem ähnlichen Verhalten einer Bestimmung zu mehreren Gegenständen diese Bestimmung für den einen Gegenstand keine Eigenthümlichkeit ist; denn dann wird sie es auch für den anderen nicht sein. Aber selbst wenn diese Bestimmung eine Eigenthümlichkeit für einen Gegenstand sein sollte, so ist sie dann noch nicht auch eine Eigenthümlichkeit für die andern. Verhält sich z.B. in Bezug auf Eigenthümlichkeit das Brennen ebenso zur Flamme wie zur glühenden Kohle, ist aber das Brennen keine Eigenthümlichkeit der Flamme, so wird es auch für die glühende Kohle keine Eigenthümlichkeit sein. Ist das Brennen aber eine Eigenthümlichkeit der Flamme, so kann sie nicht eine Eigenthümlichkeit der glühenden Kohle sein. Für die Begründung kann also dieser Gesichtspunkt nicht benutzt werden.

Die Fälle des gleichen Verhaltens zu den Fällen des gleichen Enthaltens unterscheiden sich dadurch, dass bei jenen die Fälle nur nach der Aehnlichkeit aufgestellt werden, ohne dass man auf das wirkliche Enthaltensein der Bestimmung im Gegenstande achtet, während die letzteren nur nach dem wirklichen Enthaltensein verglichen werden.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 119-123.
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