|
[132] Ob nun die Definition in der richtigen Weise, oder nicht, aufgestellt worden, ist nach diesen und anderen solchen Gesichtspunkten zu prüfen; ob aber das wesentliche Was des Gegenstandes darin angegeben und definirt worden ist, oder nicht, ist nach folgenden Gesichtspunkten zu prüfen.
Dies ist zunächst dann nicht geschehen, wenn die Definition nicht in Bestimmungen aufgestellt ist, die früher und bekannter als der definirte Gegenstand sind. Denn man stellt den Begriff nur auf, um den fraglichen Gegenstand kennen zu lernen, dies kann aber nicht aus jedwedem beliebigen Merkmal, sondern nur aus solchen geschehen, die früher und bekannter sind als der Gegenstand,[132] wie dies auch bei den Beweisen geschieht; (denn aller Unterricht und alles Lernen verhält sich so). Wenn also die Definition nicht durch solche Merkmale geschieht, so ist offenbar keine aufgestellt. Auch können, wenn dies nicht geschieht, mehrere Definitionen von demselben Gegenstande aufgestellt werden; denn dann ist auch die Definition durch frühere und bekanntere Merkmale eine und zwar die bessere, und es würden dann beide Definitionen als solche gelten müssen. Dies ist aber unzulässig; denn jedes Seiende hat als das, was es ist, nur ein Sein; könnten also mehrere Definitionen von demselben Gegenstande aufgestellt werden, so müsste für den, welcher sie aufstellt, das Sein des Gegenstandes, wie es jede der Definitionen aufstellt, dasselbe sein; allein dies ist nicht möglich, wenn die Definitionen verschieden sind. Offenbar hat also derjenige, welcher die Definition nicht mittelst früherer und bekannterer Merkmale aufstellt, keine richtige Definition aufgestellt.
Wenn ein Begriff nicht in bekannteren Merkmalen aufgestellt wird, so hat dies einen zweifachen Sinn; die Merkmale können entweder überhaupt unbekannter sein, oder sie können uns unbekannter sein; beides kann vorkommen. Ueberhaupt bekannter ist das Frühere gegen das Spätere, wie z.B. der Punkt gegen die Linie, die Linie gegen die Fläche und die Fläche gegen den Körper und ebenso die Eins gegen die Zahl; denn die Eins ist das Frühere und der Ausgangspunkt jeder Zahl. Dasselbe gilt für die Buchstaben gegen die Silben. Für uns findet dagegen mitunter das Umgekehrte statt; denn die Körper fallen am meisten in die Sinneswahrnehmung und die Fläche wieder mehr als die Linie und die Linie mehr, als der Punkt. Die Menge lernt diese Gegenstände in dieser Ordnung kennen, und diese Kenntniss ist Sache des zufälligen Denkens, während jene aus dem genauen und über das Gewöhnliche hinausgehenden Denken hervorgeht.
Im Allgemeinen ist es besser, wenn man sich bestrebt, das Spätere durch das Frühere kennen zu lernen; diese Weise entspricht mehr der Wissenschaft. Indess wird es allerdings für die, welche auf diese Weise die Kenntniss sich nicht zu verschaffen vermögen, wohl nöthig, den Begriff ihnen durch das ihnen Bekannte beizubringen.[133] Solcher Definitionen giebt es für den Punkt, für die Linie und für die Fläche, indem sie alle das Frühere durch Späteres bekannt machen; sie lauten dahin, dass der Punkt die Grenze der Linie, die Linie die Grenze der Fläche und die Fläche die Grenze des Körpers sei. Indess darf man nicht übersehen, dass der so Definirende nicht vermag, durch solche Definition das wesentliche Was des Gegenstandes darzulegen, wenn nicht etwa zufällig das überhaupt Bekanntere auch für uns das Bekanntere ist; denn eine richtige Definition muss durch die Angabe der Gattung und der Art-Unterschiede erfolgen und diese gehören zu dem überhaupt Bekannteren und Früheren gegen die Arten; denn mit Aufhebung der Gattung und des Art-Unterschiedes wird zugleich die Art aufgehoben und deshalb sind jene das Frühere gegen die Art. Sie sind aber auch das Bekanntere; denn um die Art zu kennen, muss man schon die Gattung und deren Art-Unterschiede kennen (denn wer den Menschen kennt, kennt auch das Geschöpf und das »auf dem Lande lebende«), aber aus der Kenntniss der Gattung und des Art-Unterschiedes folgt nicht nothwendig die Kenntniss der Art; mithin ist die Art das Unbekanntere. Auch müssen die, welche behaupten, dass dergleichen Definitionen, welche aus Merkmalen gebildet werden, die dem Einzelnen bekannt sind, die richtigen seien, anerkennen, dass es dann viele Definitionen von demselben Gegenstande gäbe. Denn dem Einen ist dies, dem Anderen jenes bekannter und keineswegs Allen dasselbe; daher müsste man für jeden eine andere Definition aufstellen, wenn die Definition überhaupt aus den, den Einzelnen bekannteren Merkmalen gebildet werden sollte. Auch bleibt für denselben Menschen nicht immer dasselbe das Bekannte; anfangs ist es das Wahrgenommene, kommt er aber zu einem schärferen Denken, so ist es umgekehrt; also wäre selbst für denselben Menschen nicht immer dieselbe Definition die richtige, wenn, wie jene sagen, die Definition durch die dem Einzelnen bekannteren Merkmale erfolgen sollte. Es erhellt also, dass man nicht so, sondern durch die überhaupt bekannteren Merkmale definiren muss; denn nur dann bleibt es immer bei einer und derselben Definition. Allerdings mag das überhaupt Bekannte nicht immer das sein, was Allen bekannt ist, sondern nur denen,[134] deren Denken in gutem Zustande sich befindet; ähnlich wie das überhaupt Gesunde nur für die passt, deren Körper in gutem Zustande sich befindet. Deshalb muss man zwar den einzelnen Fall in dieser Beziehung genau durchdenken, aber bei der mündlichen Erörterung dies nur so benutzen, wie es da am nützlichsten ist. Unzweifelhaft kann aber eine Definition dann am leichtesten umgestossen werden, wenn sie weder aus den überhaupt bekannteren, noch aus den uns bekannteren Merkmalen gebildet sein sollte.
Die eine Art, wo die Definition nicht durch Bekannteres gegeben wird, ist, wie bemerkt, die, wo man das Frühere durch das Spätere klar macht; eine andere Art ist es, wenn der Begriff von beharrenden und bestimmten Gegenständen durch Unbestimmtes und Veränderliches gegeben wird; denn das Beharrliche und Bestimmte ist früher als das Unbestimmte und Veränderliche.
Der Fehler, dass die Definition nicht aus früheren Bestimmungen aufgestellt wird, kann in dreifacher Weise begangen werden; einmal, wenn das zu Definirende durch sein Gegensätzliches definirt wird, z.B. wenn das Gute durch das Schlechte definirt wird; denn die Gegensätze sind von Natur zugleich. Auch nehmen Manche an, dass für beide Gegensätze nur eine Wissenschaft bestehe und dass auch deshalb der eine Gegensatz nicht bekannter sein könne, als der andere. Indess darf man nicht übersehen, dass manches nicht wohl anders definirt werden kann; so kann z.B. das Doppelte nicht ohne das Halbe definirt werden, und dies gilt für alles, was an sich zu den Beziehungen gehört; denn bei diesen allen gilt die Regel, dass das eine sich irgendwie zu dem anderen verhält. Es ist deshalb unmöglich, das eine ohne das andere zu definiren, und deshalb muss in dem Begriff des einen auch das andere mit aufgenommen werden. Man muss nun zwar alles dies kennen, aber benutzen soll man es nur so weit, wie es für den betreffenden Streitfall brauchbar erscheint.
Die zweite Weise ist die, wo man das zu Definiren deselbst zur Definition benutzt. Man bemerkt dies nicht, wenn man in der Definition einen anderen Namen gebraucht, z.B. wenn man die Sonne als das am Tage[135] scheinende Gestirn definirt; denn wenn man den Tag zur Definition benutzt, so benutzt man auch die Sonne. Um dergleichen bemerkbar zu machen, muss man statt des Namens den Begriff benutzen; z.B. statt des Tages die Bewegung der Sonne über die Erde hin. Wer sich so ausdrückte, hätte offenbar die Sonne genannt, und deshalb bedient sich der, welcher bei der Definition den Tag benutzt, in Wahrheit der Sonne selbst.
Ferner wird dieser Fehler begangen, wenn von zwei einander nebengeordneten Arten die eine durch die andere definirt wird, z.B. wenn das Ungerade als das um Eins vergrösserte Gerade definirt wird; denn die aus derselben Gattung abgeleiteten nebengeordneten Arten sind von Natur zugleich, und zu solchen gehört das Ungerade und das Gerade, da sie beide die Unterscheidung der Zahlen bilden.
Ein gleicher Fehler ist es, wenn der höhere Begriff durch untergeordnete Begriffe definirt wird, z.B. wenn man die gerade Zahl als die durch Zwei theilbare Zahl oder das Gute als den Besitz der Tugend definirt; denn das durch Zwei Theilbare ist von der Zwei abgeleitet, die zu den geraden Zahlen gehört, und die Tugend ist etwas Gutes; also sind dies niedere Begriffe von dem zu Definirenden. Ueberdem muss der, welcher zur Definition des höheren Begriffs die niederen benutzt, auch den höheren Begriff selbst mit in die Definition aufnehmen; denn wer die Tugend zur Definition des Guten benutzt, benutzt auch das Gute selbst dazu, da die Tugend zum Guten gehört. Ebenso benutzt der, welcher das durch zwei Theilbare gebraucht, das Gerade, da jenes das in-zwei-Theile-getheilt-Werden bedeutet, die Zwei aber eine gerade Zahl ist.
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
|
Buchempfehlung
Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.
62 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro