Fünftes Kapitel

[171] Dass die Begründung einer Definition schwerer ist als ihre Widerlegung, wird sich aus dem Folgenden ergeben. Denn eine Definition zu finden und neben dem Gefragten solche Vordersätze aufzustellen, aus denen der Beweis dafür sich ergiebt, ist nicht leicht, wie z.B. dafür, dass in der aufgestellten Definition die Gattung und der Art-Unterschied enthalten und dass diese zu dem Was des Gegenstandes gehören. Ohne solche Sätze kann aber kein Schluss auf die Richtigkeit der Definition gezogen werden. Denn wenn dies und jenes zu dem Was des Gegenstandes gehört, so bleibt unerkennbar, ob die aufgestellte Definition oder eine andere die wahre ist, da die Definition ein das wesentliche Was des Gegenstandes bezeichnender Satz ist. Auch erhellt dies aus Folgendem: Es ist leichter Eines als Vieles zu erschliessen; zur Widerlegung genügt nun, die Erörterung auf einen Satz zu richten (denn wenn irgend Eines widerlegt ist, hat man die Definition selbst widerlegt); zur Begründung gehört aber, dass man Alles beweist, was als in der Definition enthaltend aufgestellt ist. Ferner muss für die Begründung der Schluss allgemein aufgestellt werden; denn die Definition muss von jedem einzelnen durch den Namen befassten Gegenstand ausgesagt werden können und auch mit demselben sich austauschen lassen, wenn die aufgestellte Definition die eigenthümliche sein soll.

Für die Widerlegung bedarf es aber keines allgemeinen Beweises; es genügt, wenn man zeigen kann, dass der Begriff für einen unter dem Namen befassten Gegenstand nicht der wahre ist; selbst wenn man die Widerlegung allgemein begründen müsste, wäre dabei doch ein Beweis, wie der, dass Definition und Gegenstand sich austauschen lassen, nicht nöthig; für die allgemeine Widerlegung reicht es aus, wenn gezeigt wird, dass von einzelnen Gegenständen, von denen der Name ausgesagt wird, die Definition nicht ausgesagt werden kann; das Umgekehrte, dass von einzelnen der Gegenstände, von welchen die Definition gilt, der Name nicht ausgesagt werde, braucht nicht bewiesen zu werden. Ueberdem ist auch die Definition dann widerlegt, wenn sie zwar für Alles, was der Name befasst, gut ist, aber nicht lediglich für dieses Alles.[172]

Ebenso verhält es sich bei dem Eigenthümlichen und der Gattung; bei beiden ist es leichter, einen sie betreffenden Satz zu widerlegen als zu begründen. Für das Eigenthümliche ergiebt sich dies aus dem Gesagten; denn da das Eigenthümliche meistentheils durch einen Mehreres enthaltenden Satz ausgedrückt wird, so kann man durch Widerlegung eines einzelnen Theiles des Satzes den ganzen widerlegen, während bei der Begründung jede einzelne Bestimmung bewiesen werden muss. Auch das, was sonst in Bezug auf die Definition gesagt worden ist lässt sich beinah Alles auf das Eigenthümliche anwenden, denn bei der Begründung des Eigenthümlichen muss von Jedem, was unter seinen Namen fällt, gezeigt werden, dass das Eigenthümliche in ihm enthalten ist, während für die Widerlegung es genügt, wenn man zeigt, dass es in einem von diesen Gegenständen nicht enthalten ist. Selbst wenn das Eigenthümliche in allen von dem Namen befassten Gegenständen enthalten ist, aber nicht ausschliesslich in denselben, so ist dasselbe, wie die Definition, widerlegt. Die Gattung ist aber deshalb schwerer zu begründen als zu widerlegen, weil man nur auf eine Art beweisen kann, dass sie in jedem Einzelnen enthalten ist, während die Widerlegung in zwiefacher Weise geschehen kann; denn die aufgestellte Gattung ist widerlegt, wenn man zeigt, dass sie in keinem Einzelnen oder dass sie nur in einigen Einzelnen enthalten ist. Auch genügt für die Begründung der Gattung nicht, dass gezeigt wird, sie sei in allen einzelnen Gegenständen enthalten, sondern es muss auch dargelegt werden, weshalb sie als Gattung darin enthalten ist; bei der Widerlegung genügt es aber, wenn man zeigt, dass sie nicht als Gattung entweder in einigen oder in allen enthalten ist. Es scheint daher, dass, wie in andern Fällen, das Zerstören leichter ist, als das Anfertigen, so auch hier das Widerlegen leichter ist als das Begründen.

Bei den nebensächlichen Bestimmungen ist das allgemeine Zukommen derselben leichter zu widerlegen als zu begründen; denn bei letzterem muss gezeigt werden, dass es allen zukommt, während zur Widerlegung der Beweis genügt, dass es einem nicht zukommt. Dagegen ist das beschränkte Zukommendes Nebensächlichen leichter zu begründen als zu widerlegen; denn bei jenem[173] braucht man nur zu zeigen, dass es einzelnen zukommt, während bei diesem man zeigen muss, dass es keinem zukommt.

Hieraus erhellt auch, dass von allen Widerlegungen die der Definition die leichteste ist; denn sie enthält im Vergleich zu den andern die meisten Bestimmungen, und je mehr solcher sind, desto leichter kann ein Schluss gegen die Definition gefunden werden, indem da, wo Vieles beobachtet werden muss, leichter gefehlt werden kann, als da, wo nur Weniges zu beobachten ist. Auch kann die Definition vermittelst der andern hier behandelten Bestimmungen angegriffen werden; denn wenn die Definition dem Gegenstande nicht eigenthümlich zukommt, oder wenn die aufgestellte Gattung nicht die richtige ist, oder wenn etwas in der Definition nicht in dem Gegenstande enthalten ist, so ist die Definition widerlegt. Bei jenen anderen Bestimmungen kann man aber nicht die für die Definition anwendbaren oder alle die andern sonstigen Mittel zur Widerlegung benutzen; denn nur die für das Nebensächliche anwendbaren Mittel der Widerlegung können bei allen andern benutzt werden. Es muss zwar in dem Gegenstande jede der hier behandelten Bestimmungen enthalten sein; wenn aber auch die Gattung dem Gegenstande nicht eigenthümlich einwohnt, so ist damit die Gattung niemals widerlegt. Ebenso braucht das Eigenthümliche nicht wie die Gattung und das Nebensächliche nicht wie die Gattung oder das Eigenthümliche in dem Gegenstande enthalten zu sein, sondern es genügt bei letzterem, wenn es überhaupt darin enthalten ist, deshalb kann man die Mittel der Widerlegung bei dem einen nicht auch bei dem andern benutzen, ausgenommen bei der Definition.

Es ist also klar, dass die Definition am leichtesten zu widerlegen und am schwersten zu begründen ist; denn bei ihr muss alles das, was bei den andern Bestimmungen nöthig ist, bewiesen werden (nämlich dass die aufgestellten Bestimmungen in dem Gegenstande enthalten sind, und dass die aufgestellte Gattung die richtige ist und dass der aufgestellte Begriff dem Gegenstande eigenthümlich ist) und daneben auch noch, dass die Definition das wesentliche Was des Gegenstandes ausdrückt und dass dies in angemessener Weise geschehen ist.[174]

Von den anderen Bestimmungen steht das Eigenthümliche der Definition in dieser Beziehung am nächsten; denn es ist leichter zu widerlegen, weil es meistentheils durch mehrere Worte ausgedrückt wird, und zu begründen ist es von den übrigen am schwersten, weil man Vieles zu beweisen hat und ausserdem noch, dass das Aufgestellte dem Gegenstande ausschliesslich zukommt und sich mit ihm austauschen lässt.

Am leichtesten von Allen ist das Nebensächliche zu begründen; denn bei den übrigen Bestimmungen muss man nicht allein beweisen, dass sie in dem Gegenstande enthalten sind, sondern dass sie auch als solche darin enthalten sind, während bei dem Nebensächlichen es genügt, wenn nur das Enthaltensein desselben in dem Gegenstande bewiesen wird. Die Widerlegung ist dagegen bei ihm die schwerste, weil in ihm die wenigsten Bestimmungen zum Angriff geboten werden; denn bei dem Nebensächlichen wird nicht gesagt, wie es im Gegenstande enthalten ist. Daher kann bei den andern Bestimmungen die Widerlegung in zweifacher Weise geschehen, entweder dahin, dass sie nicht in dem Gegenstande enthalten sind, oder dass sie nicht als solche darin enthalten sind, während man das Nebensächliche nur durch den Beweis, dass es in dem Gegenstande nicht enthalten, widerlegen kann.

Damit werden die Gesichtspunkte, durch die man gut ausgerüstet ist, um jeden Streitsatz anzugreifen, wohl vollständig aufgezählt sein.[175]

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 171-176.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
Philosophische Bibliothek, Bd.13, Sophistische Widerlegungen (Organon VI)
Organon Band 2. Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck. Griechisch - Deutsch
Das Organon (German Edition)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon