Erstes Kapitel

[176] Ich habe nun noch über die Folgeordnung und über die Art und Weise, wie man fragen soll, zu sprechen. Zunächst muss der, welcher das Fragen übernehmen will, den Gesichtspunkt ausfindig machen, von wo aus ein Angriff geschehen kann; sodann hat er bei sich selbst die Fragen über jedes Einzelne zu stellen und zu ordnen, und drittens endlich hat er dies dann gegen den Andern auszusprechen. Bis zur Auffindung des passenden Gesichtspunktes ist die Untersuchung bei dem Philosophen dieselbe wie bei dem Disputirenden. Dagegen ist die Ordnung des Stoffes und die Fragestellung dem letzteren eigenthümlich; denn in Bezug auf alles dieses Uebrige ist es dem Philosophen und dem, der für sich allein forscht, sofern nur die Vordersätze, auf welchen der Schluss beruht, wahr und bekannt sind, gleichgültig, dass der antwortende Gegner sie etwa nicht anerkenne, weil sie den obersten Grundsätzen zu nahe stehen, oder weil der Gegner das daraus Abzuleitende voraussieht; vielmehr wird der Philosoph sich bestreben, seine Ansätze möglichst aus Bekannterem und den obersten Grundsätzen nahe Stehendem aufzustellen, da die wissenschaftlichen Schlüsse aus diesen abgeleitet werden.

Ueber die Gesichtspunkte, woraus die Angriffsmittel zu entnehmen, habe ich bisher gesprochen; und wenn ich jetzt über die Folgeordnung und über die Fragestellung sprechen soll, so muss ich die Sätze, welche neben den nothwendigen noch zu benutzen sind, eintheilen. Nothwendig heissen die, mittelst welchen der Schluss sich bildet; die neben diesen zu benutzenden sind viererlei; entweder dienen sie der Induktion, damit das Allgemeine[176] zugegeben werde, oder sie werden zum Ueberfluss und der Ausschmückung halber aufgenommen, oder sie dienen der Verhüllung des Schlusssatzes, oder zur Verdeutlichung der Rede. Neben diesen hat man keine weiteren Sätze zu benutzen, sondern man muss mittelst dieser die Fragen zu stellen und zu unterstützen suchen. Die auf die Verhüllung abzielenden Sätze sind nur des Streites wegen nöthig; da indess dieses ganze disputirende Verfahren es mit einem Gegner zu thun hat, so muss man auch solche Sätze benutzen.

Die nothwendigen Sätze, durch welche der Schluss erfolgt, muss man nicht gleich voranstellen, sondern zurückstellen, weil sie auf Höheres sich stützen. So darf man z.B. vom Gegner nicht das Anerkenntniss verlangen, dass Gegentheile zu einer Wissenschaft gehören, im Fall man diesen Satz benutzen will, sondern man muss diese Behauptung für entgegengesetzte Begriffe aufstellen. Denn wenn dies zugegeben ist, so kann es auch für die Gegentheile bei dem Schliessen benutzt werden, da diese zu dem Entgegengesetzten gehören. Wird dieser Satz aber nicht zugegeben, so muss man ihn durch Induktion zu begründen versuchen, indem man einzelne Gegentheile dem Gegner vorhält. Denn die nothwendigen Sätze muss man entweder durch Induktion, oder durch Schlüsse feststellen, oder die einen durch Induktion, die anderen durch Schlüsse. Die Sätze, welche sehr klar sind, kann man auch unmittelbar aufstellen; denn das, was man folgern will, wird durch seinen Abstand vom Schlusssatze und ebenso bei der Induktion nicht so leicht erkannt. Wenn man diese Mittel nicht leicht zu benutzen vermag, so kann man die nöthigen Vordersätze auch unmittelbar aufstellen. Die neben den nothwendigen Sätzen noch aufzustellenden muss man jener wegen aufstellen, und man muss jeden so benutzen, dass man von dem Einzelnen zum Allgemeinen und von dem Bekannteren zu dem Unbekannteren die Begründung fortführt, wobei als bekannter die Sätze anzusehen sind, welche auf der Sinneswahrnehmung überhaupt, oder für die meisten Menschen beruhen. Will man aber den Beweis verhüllen, so muss man zuvor die Vordersätze durch Schlüsse feststellen, mittelst welcher dann der Schluss gegen den im Anfang aufgestellten Streitsatz sich ergeben soll, und von diesen Vordersätzen möglichst viele[177] so begründen. Dies wäre dann der Fall, wenn jemand nicht blos die nothwendigen Vordersätze unmittelbar, sondern auch einige darauf hinführende vorher durch Schlüsse begründete. Auch darf man seinen letzten Schlusssatz nicht vorher aussprechen, sondern ihn zuletzt aus allen vereinigten Schlüssen ableiten; denn auf diese Weise wird der Satz als Schlusssatz am weitesten von seiner anfänglichen Aufstellung abstehen. Im Ganzen genommen muss bei diesem versteckten Verfahren der Fragende so verfahren, dass er die ganze Beweisführung in Fragen kleidet und den Schlusssatz zwar ausspricht, aber doch der Grund, wodurch dieser Schlusssatz sich ergiebt, vom Gegner noch zu suchen bleibt. Dies wird sich am meisten nach dem vorher angegebenen Gesichtspunkte machen lassen; denn wenn nur der letzte Schlusssatz ausgesprochen wird, so ist nicht ersichtlich, wie er sich ergiebt, weil der Antwortende nicht im voraus ersieht, durch welche Sätze er sich ergeben wird, indem die vorausgehenden Schlüsse nicht in der richtigen Reihenfolge vom Fragenden hingestellt werden. Der Beweis für den letzten Schlusssatz wird nämlich dann zweckmässig geordnet sein, wenn die Vordersätze dazu nicht genannt worden sind, sondern nur diejenigen Sätze, durch welche erst jene vorbereitet werden, aus denen der letzte Schluss sich ergiebt.

Auch ist es rathsam, die Vordersätze nicht zusammenhängend aufzustellen, aus denen die Schlüsse abgeleitet werden sollen, sondern mit den Vordersätzen für die einzelnen Schlusssätze abzuwechseln; denn wenn man die für jeden Schluss nöthigen Sätze hinter einander angiebt, so wird der daraus sich ergebende Schlusssatz mehr offenbar.

Man muss auch versuchen, den allgemeinen Vordersatz, wo es angeht, durch eine Definition zu erlangen, und zwar nicht unmittelbar, sondern durch verwandte Begriffe; denn die Antwortenden werden irre geführt, wenn die Definition nur für einen verwandten Begriff aufgestellt wird, und glauben dann, dass sie den allgemeinen Satz damit nicht zugestehen. Wenn z.B. der Satz gebraucht würde, dass der Erzürnte wegen der anscheinenden Geringschätzung seiner nach Bestrafung des Anderen verlange, und man stellte dann nur den Satz auf, dass[178] der Zorn ein Verlangen nach Bestrafung wegen der anscheinenden Geringschätzung sei. Hier ist klar, dass, wenn diese Definition zugestanden wird, man den allgemeinen Satz erlangt hat, welchen man braucht. Wenn man aber unmittelbar auf diesen Satz die Definition richtet, so trifft es sich oft, dass der Antwortende sie nicht zugesteht, weil er dagegen eher einen Einwurf bei der Hand hat, wie etwa, dass der Erzürnte nicht nach der Bestrafung verlange, weil man auch manchmal seinen Eltern zürne, ohne doch deren Bestrafung zu verlangen. Nun ist zwar dieser Einwurf nicht zutreffend, denn mitunter genügt als Strafe schon, dass die Person, welcher man zürnt, sich betrübe und sich Sorgen mache; dessenungeachtet hat aber solcher Einwurf etwas für sich, weil dadurch wenigstens der Schein abgewendet wird, als wolle der Antwortende den aufgestellten Satz ohne allen Grund nicht einräumen. Dagegen kann gegen die ähnliche Definition des Zornes nicht so leicht ein Einwurf erhoben werden.

Auch ist es rathsam, einen Satz nicht um sein selbst willen, sondern um eines anderen willen aufzustellen; denn gegen die den Streitsatz treffenden Sätze nehmen sich die Antwortenden in Acht. Im Allgemeinen muss man es möglichst unerkennbar lassen, ob man den aufgestellten Satz oder seinen Gegensatz benutzen wolle; denn wenn das, was man gegen den Streitsatz benutzen will, nicht hervortritt, so giebt der Gegner eher das, was ihm wahr scheint, zu.

Auch muss man die Frage auf Aehnliches stellen; denn dies erscheint glaubhafter und verhüllt mehr das Allgemeine; z.B. muss man fragen, ob nicht, da das Wissen ebenso, wie das Nichtwissen immer beide Gegentheile befasse, auch derselbe Sinn beide Gegentheile befasse, oder umgekehrt, ob, da der Sinn für beide derselbe sei, nicht auch die Wissenschaft für beide dieselbe sei? Dieses Mittel ähnelt der Induktion, aber ist doch keine; denn bei der Induktion wird aus dem Einzelnen das Allgemeine erlangt; dagegen ist der durch einen ähnlichen Satz unterstützte Satz nicht der allgemeine, welcher all' das Aehnliche befasst.

Auch muss der Fragende sich mitunter selbst einen Einwurf machen, denn die Antwortenden schöpfen gegen Diejenigen keinen Verdacht, welche anscheinend bei dem[179] Angriff redlich verfahren. Auch nützt es, wenn man bei einigen Sätzen hinzufügt, es sei allbekannt und selbstverständlich; denn wenn die Gegner keinen Einwurf zur Hand haben, so scheuen sie sich das Allbekannte zu leugnen. Zugleich schützt man solche Sätze vor ihrer Ableugnung, wenn man sich derer selbst bedient. Auch muss man nicht zu eifrig sich zeigen, wenn es auch im Allgemeinen nützlich ist, da die Antwortenden gegen die eifrigen Fragesteller sich mehr verneinend verhalten. Auch ist es rathsam, den Satz in Form eines Gleichnisses aufzustellen; denn wenn ein Satz in Form eines andern aufgestellt wird oder nicht als ein solcher, wie er benutzt werden soll, so wird er eher eingeräumt. Auch muss man Sätze, die man beweist, nicht unmittelbar aufstellen, sondern mehr solche, aus denen jene nothwendig folgen. Denn die Antwortenden geben letztere eher zu, weil das daraus Abzuleitende nicht ebenso klar erkennbar ist; wird aber Letzteres eingeräumt, so ist auch jener Satz erlangt. Auch muss man das, was man am meisten zugestanden zu haben wünscht, zuletzt zur Frage stellen; denn die Antwortenden verneinen die zuerst aufgestellten Sätze am meisten, weil die meisten Fragenden das, was ihnen am meisten am Herzen liegt, zuerst vorbringen. Bei manchen Personen muss man jedoch letzteres zuerst aufstellen; denn bedenkliche Gegner pflegen das erste am leichtesten zuzugeben, sofern der daraus zu ziehende Schluss nicht ganz offenbar ist, und werden erst gegen das Ende schwierig. Dasselbe gilt für Personen, die sehr hitzig im Antworten sind; solche geben das Meiste zu und greifen nur gegen das Ende zu Spitzfindigkeiten, wonach der Schlusssatz aus dem Zugegebenen nicht folgen sollte. Solche geben im Anfange bereitwillig Sätze zu, indem sie auf ihre Gemüthsrichtung sich verlassen und meinen, sie könnten in Nichts überwiesen werden. Auch die Weitläufigkeit in der Begründung und das Einschieben von für den Beweis nützlichen Sätzen ist rathsam, ähnlich Denjenigen, welche die zu dem Beweise nöthigen Figuren falsch hinzeichnen. Denn sind der Sätze viele, so ist der falsche Satz mehr verhüllt. Deshalb machen die Fragenden mitunter nur nebenbei Zusätze, welche der Gegner nicht bemerkt, aber die er, wenn sie geradezu aufgestellt worden wären, nicht zugestanden haben würde.[180]

Zur Verhüllung der Beweisführung sind sonach die vorgenannten Mittel zu benutzen; zur Verzierung des Vertrags ist dagegen die Induktion und die Abscheidung verwandter Begriffe zu benutzen. Was die Induktion ist, ist bekannt; das Abscheiden geschieht dagegen in der Weise, dass man z.B. bemerkt, die eine Wissenschaft sei besser als die andere, entweder weil sie genauer sei oder bessere Gegenstände behandle, ferner, dass die Wissenschaften in theoretische, praktische und technische zerfallen. Dergleichen Bemerkungen helfen die Begründung ausschmücken, ohne dass sie doch für das Beweisthema nöthig sind.

Zur Verdeutlichung dient die Anführung von Beispielen und Gleichnissen. Die Beispiele müssen aber den Gegenstand betreffen und von bekannteren Dingen hergenommen sein; also so, wie Homer sie bietet und nicht so, wie Choirilos; denn nur dann werden die Aufstellungen deutlicher werden.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 176-181.
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