|
[194] Der Tadel gegen die Begründung eines Satzes selbst ist nicht derselbe, wie der gegen die Fragestellung denn oft trifft den Gefragten die Schuld, weil er das[194] nicht einräumt, was zur guten Widerlegung des Streitsatzes hätte benutzt werden können; denn es ist nicht blos Sache des Einen, dass das gemeinsame Werk gut zu Ende geführt werde. Manchmal muss also der Fragende seinen Angriff gegen den Antwortenden und nicht gegen den aufgestellten Satz richten, nämlich wenn der Antwortende aus Böswilligkeit das Gegentheil von dem Gefragten hartnäckig festhält. Erbitterte Personen führen so die Erörterungen nur um zu streiten und nicht nach den Regeln des Disputirens. Da aber diese Disputationen nicht des Unterrichts wegen geschehen, sondern zur Uebung und um seine Kräfte zu versuchen, so erhellt, dass in solchen Disputationen nicht blos das Wahre, sondern auch das Falsche durch Schlüsse festgestellt werden darf, und dass dies auch nicht immer durch wahre Vordersätze, sondern auch durch falsche geschehen darf. Denn wenn auch der Gegner einen wahren Satz aufstellt, muss man ihn doch bei der Disputation widerlegen und deshalb einen falschen Satz aufstellen. Manchmal muss auch, wenn der Gegner einen falschen Satz aufstellt, man denselben durch falsche Sätze widerlegen. Denn es kann sein, dass jemand das Unwahre mehr als das Wahre billigt, so dass, wenn die Erörterung sich auf das von ihm Gebilligte stützt, er mehr überführt als belehrt sein wird. Indess dürfen Ueberschreitungen nicht blos des Streites wegen geschehen, sondern nur in der Weise, wie es beim Disputiren sich gehört, da auch der Geometer seinen Satz, mag er falsch oder wahr sein, nur auf geometrische Weise begründet.
Welche Schlüsse bei den Disputationen zulässig seien, ist früher von mir gesagt worden. Da nun jeder Genosse schlecht ist, der dem gemeinsamen Werk hindernd in den Weg tritt, so gilt dies auch für die Disputationen, denn auch hier besteht ein für Alle Gemeinsames, ausgenommen, wenn man sich dabei blos streiten will. Wollen zwei sich blos streiten, so können sie allerdings nicht beide dasselbe Ziel erreichen, denn mehr als einer kann unmöglich Sieger sein. Dabei ist es gleich, ob dies im Antworten oder im Fragen geschieht; denn wer nur um des Streites willen Fragen stellt, disputirt nicht richtig, ebenso fehlt der Andere, wenn er das Glaubwürdige nicht zugiebt oder nicht auf das wartet, was der Fragende[195] etwa fragen wird. Aus dem Gesagten erhellt, dass man die Erörterung und den Fragenden nicht gleicherweise tadeln kann; denn es kann wohl sein, dass die Erörterung schlecht geschieht, aber der Fragende doch die Erörterung nach Möglichkeit gut mit dem Antwortenden geführt hat, da man gegen ärgerliche Gegner nicht gerade die Schlüsse, die man will, sondern nur diejenigen zu Stande bringen kann, welche nach den Antworten möglich sind.
Indess ist es nicht zu berechnen, wenn die Menschen ihre anfängliche Ansicht festhalten und wenn sie das Gegentheil davon behaupten, denn oft nehmen sie, wenn sie bei sich eine Sache überlegen, das sich Widersprechende an und leugnen erst, was sie später anerkennen, deshalb geben sie, wenn sie gefragt werden, oft das Gegentheil von dem im Anfang Zugestandenen zu. Deshalb müssen die Disputationen dadurch schlecht werden. Die Schuld trifft dann den Antwortenden, der bald denselben Satz zugiebt, bald wieder bestreitet; hieraus erhellt, dass der Tadel nicht immer den Fragenden trifft, wenn die Disputation schlecht ausfällt.
Gegen die Disputation selbst kann nun in fünffacher Weise ein Tadel erhoben werden. Erstlich dann, wenn aus dem, was gefragt worden, weder der Schlusssatz noch ein anderer gefolgert werden kann, indem von dem, was gefragt wurden und aus dem der Schlusssatz folgen soll, Alles oder das Meiste falsch oder unglaubwürdig ist, und dieser Schlusssatz selbst dann sich nicht ergiebt, wenn von den gefragten Sätzen etwas abgenommen oder zugesetzt, oder theils abgenommen, theils zugesetzt wird. Zweitens ist die Disputation mangelhaft, wenn aus solchen falschen Vordersätzen und solchen, wie ich sie eben genannt habe, kein Schluss gegen den Streitsatz sich ergiebt. Drittens ist die Disputation mangelhaft, wenn der Schlusssatz sich erst ergiebt, wenn noch etwas hinzugefügt wird, dies aber schlechter ist, als das Gesagte und weniger glaubwürdig als der Schlusssatz. Viertens ist die Disputation zu tadeln, wenn sie Ueberflüssiges mit befasst, was zu beseitigen ist; denn mitunter wird in den Vordersätzen mehr behauptet als nothwendig ist, so dass der Schlusssatz sich aus ihnen nicht so, wie sie sind, ergiebt. Endlich ist es fehlerhaft, wenn der Schlusssatz aus Vordersätzen abgeleitet wird, welche unglaubwürdiger[196] und weniger sicher sind als der Schlusssatz; oder wenn diese Vordersätze zwar wahr sind aber schwieriger zu beweisen sind als der aufgestellte Streitsatz.
Man darf jedoch nicht verlangen, dass bei allen Streitsätzen die Schlüsse gleich glaubwürdig und einleuchtend seien; denn schon von Natur ist Manches leichter, Manches schwerer zu erreichen, und deshalb führt derjenige die Erörterung am besten, welcher den Beweis aus den möglichst glaubwürdigen Sätzen ableitet. Man muss auch bei einer Disputation unterscheiden, ob diese an sich Tadel verdient, oder nur in Bezug auf den aufgestellten Streitsatz. Denn es kann wohl sein, dass die Erörterung an sich zu tadeln ist, aber in Bezug auf den aufgestellten Streitsatz doch Lob verdient und umgekehrt, dass die Erörterung an sich zu loben ist, aber in Bezug auf den Streitsatz zu tadeln ist. Ersteres ist dann der Fall, wenn der Schlusssatz aus mehreren und leichter einzusehenden und wahren Vordersätzen hätte abgeleitet werden können. Es kann auch kommen, dass eine abgeschlossene Disputation schlechter ist, als die, welche zu keinem Schlusssatz geführt hat; nämlich wenn bei jener der Schlusssatz aus einfältigen Sätzen abgeleitet wird, während der aufgestellte Streitsatz nicht solcher Art ist; diese dagegen nur noch einiger glaubwürdigen oder wahren Sätze bedarf, ohne dass der Beweis auf diesem Hinzuzunehmenden beruht. Wenn aus falschen Vordersätzen ein wahrer Schlusssatz abgeleitet wird, so darf man dies nicht tadeln; denn in den Analytiken habe ich dargelegt, dass zwar Falsches nur aus Falschem abgeleitet werden kann, aber dass Wahres auch aus falschen Vordersätzen gefolgert werden kann.
Wenn die Begründung zwar etwas beweist, aber in dem Streitsatze noch mehr daneben enthalten ist, so gilt der Schluss nicht auch gegen dieses, und wenn dies doch so scheint, so ist der Beweis nur ein sophistischer und kein wahrer. Ein Philosophem ist ein streng zu beweisender Schluss; ein Epichrem ist der in einer Disputation geführte Schluss; ein Sophisme ist ein nur des Streites halber aufgestellter Schluss und ein Aporem ist ein das Gegentheil in der Disputation begründender Schluss.
Wenn ein Satz aus zwei glaubwürdigen Vordersätzen abgeleitet wird, aber der eine Vordersatz glaubwürdiger[197] ist, als der andere, so kann recht wohl der abgeleitete Schlusssatz glaubwürdiger sein, als jeder der beiden Vordersätze. Wenn aber von jenen Vordersätzen der eine glaubwürdig ist, der andere aber weder glaubwürdig, noch unglaubwürdig, oder wenn der eine glaubwürdig, der andere aber unglaubwürdig ist, so wird, wenn dies Glaubwürdige und Unglaubwürdige in gleichem Grade statt hat, auch der Schlusssatz in gleichem Grade glaubwürdig oder unglaubwürdig sein; ist aber die Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit des einen Vordersatzes grösser als die des anderen, so wird auch der Schlusssatz der Art sein.
Ein Fehler bei dem Schliessen ist auch dann vorhanden, wenn der Beweis durch Schwierigeres geführt wird, während er durch Einfacheres, was auch in der Erörterung enthalten ist, hätte geführt werden können. Wäre z.B. der Satz zu beweisen, dass eine Meinung es mehr sei, als eine andere, so beginge jemand diesen Fehler, wenn er behauptete, dass die Idee jeder Sache am meisten deren Natur enthalte und dass es in Wahrheit eine Idee von der Meinung gebe, sie also mehr Meinung sei, als die einzelnen Meinungen. Wo nun die Natur einer Sache eine Steigerung zulasse, da gelte dies auch für das darauf Bezogene. Nun sei aber die Idee der Meinung auch wahr, da sie genauer sei, als die einzelnen Meinungen. Nun sei angenommen worden, dass die Idee der Meinung wahr sei und dass die Idee von jeder Sache deren Natur am meisten enthalte; deshalb werde also auch die am meisten wahre Meinung am meisten Meinung sein. Worin liegt hier wohl der Fehler? Doch wohl darin, dass der wahre Grund für das, worüber disputirt wird, dadurch verhüllt wird.
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
|
Buchempfehlung
Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.
56 Seiten, 3.80 Euro