Fünftes Kapitel

[188] Für die, welche der Uebung und des Versuchs willen Disputationen über Sätze anstellen wollen, sind bisher keine Regeln aufgestellt worden. Offenbar sind jedoch für die Lehrer und Lernenden die Ziele hierbei nicht dieselben, wie für die, welche darüber mit einander disputiren wollen. Ebenso sind die Ziele der letzteren und derer, die das Gespräch nur behufs Ermittelung der Wahrheit führen wollen, verschieden. Dem Schüler muss man immer das Richtig-scheinende zugeben, denn kein Lehrer versucht, den Schülern Falsches zu lehren. Bei den Disputationen muss aber der Fragende sich den Schein bewahren, dass er alles das thue, was nöthig ist und der Antwortende, dass er in keinem Punkte besiegt werde. Für solche Zusammenkünfte aber, wo die mündlichen Besprechungen nicht um des Streites willen geschehen, sondern wo man sich bestrebt, dadurch die Wahrheit zu erreichen, sind nirgends von Jemand Regeln darüber aufgestellt worden, was der Antwortende im Auge behalten solle, was er zugeben solle und was nicht, damit der aufgestellte Satz als gut oder nicht gut vertheidigt gelten kann. Da somit Andere uns hierüber nichts überliefert haben, werde ich selbst versuchen, darüber etwas zu sagen.

Dem Antwortenden liegt also bei einem solchen Gespräche ob, den aufgestellten Satz aufrecht zu erhalten, mag er glaubwürdig, oder unglaubwürdig, oder keines von beiden sein, und mag er dies allgemein sein, oder nur in beschränkter Weise sein, z.B. wenn er nur einem Einzelnen so erscheint, mag er selbst oder ein Anderer dieser Einzelne sein. Dabei ist es gleichgültig, in welcher dieser Weisen der Satz glaubwürdig, oder unglaubwürdig ist; denn die Art, richtig zu antworten und das Gefragte zuzugeben oder nicht, bleibt dieselbe. Ist nun der aufgestellte Satz unglaubwürdig, so muss der Schlusssatz des Gegenbeweises glaubwürdig sein, und unglaubwürdig, wenn[188] jener glaubwürdig ist; denn der Fragende folgert immer das, was dem aufgestellten Satze widerspricht. Ist aber der aufgestellte Satz weder glaubwürdig, noch unglaubwürdig, so wird der Schlusssatz des Gegenbeweises auch der Art sein. Da nun bei einem gut beschaffenen Schluss das, was man erweisen will, aus glaubwürdigeren und bekannteren Sätzen abgeleitet werden muss, so erhellt, dass, wenn der aufgestellte Satz überhaupt unglaubwürdig ist, der Antwortende weder das zugestehen darf, was überhaupt nicht glaubwürdig erscheint, noch das, was weniger glaubwürdig scheint, als der Schlusssatz des Gegenbeweises. Denn ist der aufgestellte Satz unglaubwürdig, so ist der Schlusssatz des Gegenbeweises glaubwürdig, und deshalb muss Alles, was der Antwortende zugiebt, glaubwürdig sein und auch mehr glaubwürdig, als der Schlusssatz des Gegenbeweises, weil das weniger Bekannte aus Bekannterem gefolgert werden soll. Ist also von den gefragten Sätzen einer nicht so beschaffen, so darf ihn der Antwortende nicht zugeben.

Ist dagegen der aufgestellte Satz überhaupt glaubwürdig, so muss offenbar der Schlusssatz des Gegenbeweises überhaupt unglaubwürdig sein. Der Antwortende kann daher dann Alles zugeben, was glaubwürdig scheint und von dem, was nicht so scheint, Alles, was weniger unglaubwürdig ist, als der Schlusssatz des Gegenbeweises. Dann wird der Antwortende die Erörterung seinerseits gut geführt haben. Ebenso ist zu verfahren, wenn der aufgestellte Satz weder glaubwürdig, noch unglaubwürdig erscheint; dann kann der Antwortende Alles, was ihm glaubwürdig scheint, zugeben, und von anderen Sätzen die, welche ihm glaubwürdiger erscheinen, als der Schlusssatz des Gegenbeweises, denn dann kann dieser Gegenbeweis nur zu Glaubwürdigerem führen.

Hiernach ist also bei allgemein glaubwürdigen oder allgemein unglaubwürdigen Sätzen durch Vergleichung derselben zu ermessen, was zuzugeben ist. Ist aber die Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit keine allgemeine, sondern gilt sie nur dem Antworten den als eine solche, so muss er nach sich selbst beurtheilen, was er als glaubwürdig oder nicht glaubwürdig zugeben kann. Richtet sich aber der Antwortende nach dem Dafürhalten eines Dritten, so ist klar, dass er auf dieses Dritten Urtheil[189] Rücksicht nehmen muss und danach prüfen, was er zugeben kann und was nicht. Wer deshalb die Meinungen Anderer aufnimmt, z.B. den Satz, dass gut und schlecht dasselbe seien, wie Heraklit behauptete, der darf auch nicht zugeben, dass Gegentheiliges nicht zugleich an demselben Gegenstande bestehen könne, nicht etwa, weil er selbst dieser Ansicht ist, sondern weil er dem Heraklit gemäss so sprechen muss. Auch die, welche gegenseitig von einander die zu vertheidigenden Sätze übernehmen, verfahren so, denn sie bestreben sich so zu sprechen, wie der, welcher den Satz aufgestellt hat.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 188-190.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
Philosophische Bibliothek, Bd.13, Sophistische Widerlegungen (Organon VI)
Organon Band 2. Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck. Griechisch - Deutsch
Das Organon (German Edition)