Achtes Kapitel

[192] Da nun jeder auf den Schluss bezügliche Satz entweder zu denen gehört, aus welchen der Schlusssatz abgeleitet werden kann, oder zu denen, aus welchen ein Vordersatz zu diesem Schluss gewonnen werden soll, und da daraus, dass vieles einander Aehnliche gefragt wird, erhellt, dass der betreffende Satz behufs Ableitung eines andern aufgestellt wird (denn das Allgemeine wird meistentheils mit Hülfe der Induktion oder der Aehnlichkeit aufgestellt) so muss der Antwortende das Einzelne alles zugeben, wenn es wahr oder glaubwürdig ist; aber er muss versuchen, gegen die Allgemeinheit einen Einwurf aufzustellen; denn wollte er, obgleich kein Einwurf wirklich oder anscheinend vorhanden ist, den Satz dennoch bestreiten, so würde dies nur zeigen, dass er unnöthige Schwierigkeiten macht. Denn wenn er trotz vieler beigebrachten, den Satz bestätigenden Fälle den Satz in seiner Allgemeinheit doch nicht zugiebt, ohne einen Einwurf zu machen, so ist klar, dass er blos Schwierigkeiten machen will, und dies würde noch viel mehr angenommen werden müssen, wenn er keinen Angriff gegen die Wahrheit des Satzes zu unternehmen vermöchte. Indess kann man selbst in diesem Fall nicht immer einen solchen Beweggrund annehmen; denn es giebt viele Sätze, die der gewöhnlichen Meinung widerstreiten und die man doch schwer widerlegen kann, z.B. den Satz Zeno's, dass die Bewegung unmöglich sei und dass man die Rennbahn nicht durchlaufen könne. Durch solche Sätze darf man sich also nicht abhalten lassen, die ihnen entgegengesetzten Sätze dennoch aufzustellen. Also ist ein Missmuth bei dem Antwortenden nur dann offenbar vorhanden, wenn er keinen Einwurf erhebt, noch den Beweis des Fragenden angreift, noch selbst einen entgegengesetzten Satz aufstellt. Denn ein Missmuth ist bei Disputationen dann vorhanden, wenn man eine Antwort giebt, welche die Schlussfolgerung unmöglich macht, ohne sie doch in der angegebenen Weise zu rechtfertigen.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 192.
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