Dreissigstes Kapitel

[71] Der Weg zur Bildung von Schlüssen ist sonach bei Allem derselbe, sowohl innerhalb der Philosophie, wie innerhalb der theoretischen und praktischen besonderen Wissenschaften. Bei jedem Satze muss man die Prädikate und die Subjekte zu jedem der betreffenden Begriffe sorgfältig erwägen, dergleichen Bestimmungen so viel als möglich gegenwärtig haben und sie je nach den drei Begriffen des Schlusses in Betracht ziehen und zwar um etwas verneinend zu beweisen in der einen Weise und um etwas bejahend zu beweisen in der anderen Weise. Soll dabei etwas der strengen Wahrheit gemäss bewiesen werden, so muss es aus streng wahren und richtig gestellten Vordersätzen abgeleitet werden; und bei dialektischen Schlüssen müssen die Vordersätze der Meinung entsprechen.

Was die Vordersätze der Schlüsse anlangt, so habe ich bereits im Allgemeinen dargelegt, wie sie sich gegen einander zu verhalten haben und auf welche Weise man sie zu beschaffen habe. Man darf nicht alles Mögliche, was von den Begriffen eines Beweissatzes sich sagen lässt, in Betracht ziehen, auch bei verneinenden und bei bejahenden Beweisen nicht auf Ein und Dasselbe Acht haben, mag ein Satz allgemein oder beschränkt zu beweisen oder zu widerlegen sein. Vielmehr muss man die Nachforschung auf Engeres und Bestimmteres richten und hiernach die Auswahl bei jedem Gegenstande, wie z.B. bei dem Guten oder der Wissenschaft treffen; denn die meisten Sätze gehören bei jeder Wissenschaft ihr eigenthümlich an. Deshalb ist es Sache der Erfahrung, die für den einzelnen Fall gültigen Sätze zu liefern; so hat z.B. die Erfahrung in Bezug auf die Gestirne die der astronomischen Wissenschaft angehörenden Sätze zu beschaffen;[71] erst nachdem man eine genügende Zahl von Erscheinungen hier beobachtet hatte, konnten die Beweise in der Sternkunde aufgefunden werden und eben so verhält es sich bei jeder anderen theoretischen oder praktischen Wissenschaft. Erst wenn man das, was den einzelnen Fall anbetrifft, erkannt hat, ist es unsere Aufgabe, die Beweise klar und bereit zu machen. Nur wenn in der Beschreibung der Dinge Nichts von dem wirklich Vorhandenen übersehen worden ist, werden wir für Alles, wo Beweise möglich sind, dieselben auffinden und aufstellen können und da, wo die Natur der Sache keinen Beweis gestattet, auch dies klar darlegen können.

Somit werde ich wohl vollständig gezeigt haben, wie man die Vordersätze auswählen soll; genauer habe ich den Gegenstand in der Dialektik behandelt.

Quelle:
Aristoteles: Erste Analytiken oder: Lehre vom Schluss. Leipzig [o.J.], S. 71-72.
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