Elftes Kapitel

[23] Auch liegt es dem, welcher etwas beweisen will, nicht ob, von dem Anderen eine Bejahung oder Verneinung zu verlangen, sondern dies kommt nur dem zu, welcher eine Prüfung vornimmt. Denn die prüfende Kunst gehört zur dialektischen Kunst; sie verhandelt nicht mit dem Kenner, sondern mit dem Unwissenden, der sich für einen Kenner ausgiebt. Wer nun in Bezug auf die Sache nur die allgemeineren Grundsätze benutzt, ist ein Dialektiker, und der, welcher dies nur scheinbar thut, ein Sophist. Der nur dem Streit dienende Schluss und der sophistische Schluss sind zum Theil scheinbare Schlüsse, mit welchen sich die auf die Probe stellende Dialektik beschäftigt, und wobei der Schlusssatz auch wahr sein kann; denn die Täuschung ist hier nur in dem Mittelbegriff oder in dem Grunde des Schlusssatzes enthalten; zum Theil sind beide aber Fehlschlüsse, die nur scheinbar die Grundsätze einer besonderen Wissenschaft benutzen, aber in Wahrheit das richtige Verfahren nicht einhalten. So sind die falschen Verzeichnungen keine dem Streit dienende Schlüsse (weil die Fehlschlüsse hier sich wirklich innerhalb der betreffenden Wissenschaft halten) und dies gilt auch, wenn die falsche Verzeichnung sich auf etwas Wahres bezieht, wie z.B. die Verzeichnung des Hippokrates, oder[23] die Quadratur des Kreises vermittelst der mondförmigen Abschnitte. Dagegen ist das Verfahren des Bryson, womit er die Quadratur des Kreises versuchte, ein sophistisches, selbst wenn damit die Quadratur des Kreises wirklich erreicht würde, weil seine Vordersätze nicht aus der geometrischen Wissenschaft entlehnt sind. Sonach giebt es zwei Arten der auf den Streit abzielenden Schlüsse; die eine hält die allgemeinen oder formalen Regeln nur scheinbar ein, die andere hält die Regeln der betreffenden Wissenschaft nur scheinbar ein, selbst wenn der Schluss ein richtiger ist. Denn er hält sich nur scheinbar an die Sache; ist also betrügerisch und unrecht. Denn so wie es im Wettkampfe eine Art Unrecht giebt und wie es in der Schlacht ein unrechtes Verfahren giebt, so ist bei dem Disputiren das auf den Streit abzielende Verfahren die unrechte Kampfweise. Dort ergreifen die, welche durchaus den Sieg gewinnen wollen, jedwedes Mittel und hier thun dasselbe die blos Streitsüchtigen. Solche Menschen, welche nur, um den Sieg zu gewinnen, das Disputiren betreiben, scheinen auch streitsüchtig zu sein, und die, welche nur des Ansehens wegen, damit sie Geld verdienen, streiten, sind Sophisten. Denn die Kunst der Sophisten will, wie ich schon gesagt, durch den Schein der Weisheit Geld erwerben, und deshalb streben sie nach scheinbaren Beweisen. Beide, die Streitsüchtigen und die Sophisten benutzen dieselben Begründungen, aber nicht des gleichen Zieles wegen. Auch kann dieselbe Begründung sophistisch und streitsüchtig sein, aber nicht in Beziehung auf Gleiches, da die streitsüchtige nur geschieht, um scheinbar den Sieg zu gewinnen, und die sophistische um des Scheines der Weisheit willen; da die sophistische Weisheit nur eine scheinbare, aber keine wirkliche Weisheit ist.

Der Streitsüchtige verhält sich zu dem Dialektiker ungefähr wie der, welcher falsche Verzeichnungen zu seinen Beweisen benutzt, zu dem Geometer; denn er macht aus denselben Gründen Fehlschlüsse gegen die Dialektik, aus denen der falsche Verzeichner dem Geometer entgegentritt. Der falsche Verzeichner ist aber kein Streitsüchtiger, weil er seinen Beweis an der falschen Figur doch aus den Grundsätzen und Schlusssätzen der Geometrie ableitet; der andere aber wendet zwar die[24] Regeln der Dialektik an, aber im Uebrigen ist er offenbar ein Streitsüchtiger. So ist z.B. der Beweis für die Quadratur des Kreises vermittelst der mondförmigen Abschnitte kein streitsüchtiger, wohl aber der von Bryson dafür aufgestellte Beweis. Jener Beweis lässt sich nicht für andere Wissenschaften, als die Geometrie benutzen, weil dieser Beweis auf den der Geometrie eigenthümlichen Grundsätzen beruht; dagegen richtet sich der Beweis des Bryson an die Menge, welche das Mögliche und Unmögliche bei jedem Dinge nicht zu unterscheiden vermag; denn für solche wird sein Beweis passen; oder er hat die Quadratur des Kreises wie Antiphon aufgestellt. Oder wenn Jemand leugnete, dass das Spazierengehen nach der Mahlzeit gut sei, und zwar aus den Gründen Zeno's gegen die Bewegung, so wäre seine Begründung keine ärztliche, da sie für vieles Andere auch passte.

Wenn nun die streitsüchtige Begründung sich ganz so zu der dialektischen verhielte, wie der falsche Verzeichner zu dem Geometer, so gäbe es in der Geometrie keine streitsüchtigen Begründungen; allein die dialektische Begründung ist auf keine bestimmte Gattung von Gegenständen beschränkt, auch beweist sie keinen Satz und stützt sich nicht auf die dem Gegenstande eigenthümlichen Gesetze; denn Alles kann nicht blos zu einer Gattung gehören, und selbst wenn dies möglich wäre, könnte alles Seiende nicht unter denselben obersten Grundsätzen stehen. Deshalb stellt keine jener Wissenschaften, welche über die besondere Natur ihrer Gegenstände Beweise führen, Fragen; bei ihnen ist es nicht erlaubt, irgend ein Stück blos auf das Zugeständniss zu stützen und der Schluss kann hier nicht aus beiden, d.h. aus Zugegebenen und obersten Grundsätzen sich ableiten. Dagegen bewegt sich die dialektische Wissenschaft in Fragen; denn würde sie etwas wirklich beweisen wollen, so würde sie, wenn auch nicht über Alles, doch nicht über die obersten und die jedem Gebiet eigenthümlichen Grundsätze Fragen stellen, da, wenn ihr das Betreffende nicht zugegeben würde, sie keine Unterlage mehr hätte, von wo aus sie die Erörterung gegen den Einwurf fortführen könnte. Das dialektische Verfahren stellt auch den Gegner auf die Probe. Diese Kunst gleicht nicht der Geometrie, vielmehr kann auch der Unwissende sie üben: denn auch der, welcher[25] von der Sache nichts versteht, kann den Unwissenden auf die Probe stellen, wenn dieser die Aufstellungen jenes zugiebt; dies kann er nicht vermöge seiner Wissenschaft und auch nicht vermöge des dem Gegenstande Eigenthümlichen, sondern vermöge anderer, dem Gegenstande zukommenden Bestimmungen, welche der Art sind, dass der, welcher sie kennt, die betreffende Wissenschaft selbst nicht zu kennen braucht und dass der, welcher sie nicht kennt, nothwendig auch der betreffenden Wissenschaft unkundig sein muss. Hieraus erhellt, dass es keinen Gegenstand giebt, über den die auf die Probe stellende Kunst sich nicht ausdehnen könnte; vielmehr erstreckt sie sich über Alles, da alle Wissenschaften auch von gewissen gemeinsamen Grundsätzen Gebrauch machen. Aus diesem Grunde macht jedermann von der dialektischen und auf die Probe stellenden Kunst Gebrauch, selbst solche thun dies, welche sie nicht kennen, da Alle bis zu einem gewissen Grade es versuchen, diejenigen, welche etwas zu verstehen vorgeben, zu beurtheilen. Sie benutzen dazu die für alle Wissenschaften geltenden gemeinsamen Grundsätze, welche sie dennoch kennen, wenn sie auch anscheinend über Dinge, die nicht zur Sache gehören, sprechen. Alle unternehmen deshalb Widerlegungen, da sie, ohne die dialektische Kunst gelernt zu haben, doch dasjenige innehaben, was, wenn kunstgemäss gebraucht, die Dialektik ausmacht und was vermöge der Kunst zu schliessen, den auf die Probe stellenden Dialektiker ausmacht. Da nun Vieles gleicher Art ist und von Allem gilt und nicht der Art ist, dass es eine besondere Natur oder eine besondere Gattung wäre, sondern so, wie z.B. die Verneinungen; da aber Anderes nicht solcher Art ist, sondern das den Dingen Eigenthümliche ausmacht, so kann man mittelst jener einen Weise über Alles auf die Probe stellen und es besteht auch eine Kunst der Art, die aber nicht so beschaffen ist, wie die beweisenden Wissenschaften. Deshalb verhält sich der Streitsüchtige nicht durchaus so, wie der, welcher eine falsche Verzeichnung benutzt, denn er benutzt nicht die Grundsätze eines bestimmten Gebiets zu seinen Fehlschlüssen, sondern streitet über alle Gattungen der Dinge.

Dies sind nun die Weisen und Gesichtspunkte der sophistischen Widerlegungen, und man kann daraus leicht[26] entnehmen, dass der Dialektiker dieselben in Betracht nehmen und auch selbst zu Stande zu bringen vermögen muss, denn die Lehre von den Schlüssen befasst auch diese ganze Untersuchung.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 23-27.
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Philosophische Bibliothek, Bd.13, Sophistische Widerlegungen (Organon VI)
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