Zwölftes Kapitel

[27] So viel über die scheinbaren Widerlegungen; was aber die Darlegung, dass etwas Falsches behauptet worden, und die Verleitung des Gegners zu unglaubwürdigen Behauptungen anlangt (denn dies war das Zweite, wonach die sophistische Kunst strebt), so kommt dies zunächst dadurch am meisten zu Stande, dass in einer besonderen Weise gefragt wird und die Fragen gestellt werden. Denn das Fragen, was auf keinen bestimmten Satz sich richtet, geht auf dieses Ziel aus, da bei planlosem Sprechen leichter Fehler begangen werden, und ein planloses Sprechen ist vorhanden, wenn kein Satz zur Besprechung vorliegt. Sodann kann auch, selbst wenn ein bestimmter Satz zur Besprechung aufgestellt ist, vermittelst vielen Fragens, sowie durch die Aufforderung an den Gegner, doch das zu sagen, was er darüber meint, derselbe leicht zu unglaubwürdigen oder falschen Behauptungen verleitet werden. Wenn hierbei der Gefragte etwas in dieser Art behauptet, oder verneint, so kann der Sophist die Erörterung so leiten, dass solche Behauptung leicht zu widerlegen ist. Indess können die Sophisten gegenwärtig mit diesen Mitteln weniger schaden, als früher; denn die Gefragten verlangen jetzt von ihnen die Angabe, wie solches sich zu dem im Anfang aufgestellten Satze verhalte? Denn das elementare Mittel, den Gegner zur Behauptung von etwas Falschem oder Unglaubwürdigem zu bringen, besteht darin, dass die Frage nicht gleich für einen bestimmten Satz gestellt wird, sondern dass man vorgiebt, man früge nur, um zu lernen; die Untersuchung, welche dann der Gefragte unternimmt, giebt Gelegenheit zu Kunstgriffen.

Um das Falsche in den Behauptungen des Gegners darzulegen, bestellt ein eigenthümliches sophistisches Mittel darin, dass die Sophisten den Gegner zu solchen Behauptungen verleiten, wo sie viele Gründe für die Widerlegung[27] zur Hand haben. So zu verfahren, kann sowohl recht, als unrecht sein, wie ich früher dargelegt habe.

Um ferner den Gegner zu unglaubwürdigen Behauptungen zu veranlassen, dient es, dass man ermittelt, zu welcher Schule derselbe sich hält, und dann die Fragen auf das richtet, was da an Sätzen gelehrt wird, welche der Menge unglaubwürdig erscheinen; denn in jeder Schule finden sich dergleichen. Jenes elementare Mittel besteht dann darin, dass solche Sätze der einzelnen Schulen als Vordersätze benutzt werden. Der passende Schutz in solchem Falle ist dann der, dass man zeigt, wie das Unglaubwürdige nicht aus der Begründung folge; denn der streitende Sophist will immer auch dies.

Auch der Gegensatz des innerlich Gewollten und des offen Ausgesprochenen dient für dieses Ziel. Denn die Absichten stimmen oft nicht zu den Worten, vielmehr sprechen die Menschen in der anständigsten Weise, während sie innerlich das wollen, was ihnen Gewinn zu bringen scheint. So sagen sie, man müsse einen ehrenvollen Tod einem angenehmen Leben vorziehen, und man müsse eher als ein Gerechter darben, als wie auf schlechte Weise reich sein; aber innerlich wollen sie das Entgegengesetzte. Antwortet nun der Gefragte so, wie er es innerlich wünscht, so wird die öffentliche Meinung gegen ihn geltend gemacht, und spricht er dieser gemäss, so wird er auf die verheimlichten Absichten gedrängt. In beiden Fällen muss dann der Gefragte Unglaubwürdiges behaupten und entweder gegen die offen ausgesprochene oder gegen die heimliche, von ihm gehegte Meinung sprechen.

Am meisten wird dasjenige Mittel, um jemand zu unglaubwürdigen Behauptungen zu verleiten, benutzt, was auch Kallikles in dem geschriebenen Dialog Gorgias anwendet und was in früheren Zeiten als untrüglich galt, nämlich der Widerspruch zwischen dem Naturgemässen und dem Gesetzlichen, weil Natur und Gesetz Gegentheile seien und z.B. die Gerechtigkeit nach dem Gesetze etwas Schönes, aber nach der Natur nichts Schönes sei. Wenn also der Gegner der Natur gemäss spricht, so muss man ihm mit dem Gesetz entgegentreten, und wenn er dem Gesetz gemäss spricht, ihm die Natur vorhalten; auf beide Weisen muss er dann Unglaubwürdiges behaupten. Man nahm dabei damals an, dass das naturgemässe Handeln[28] das wahre sei, das gesetzliche Handeln aber nur das fordere, was der Menge gefalle. So konnten die Sophisten sowohl in früheren Zeiten, wie auch jetzt es dahin bringen, dass der Antwortende entweder widerlegt wurde oder Unglaubwürdiges behauptete.

Manche Fragen haben das Eigne, dass die Antwort nach beiden Alternativen unglaubwürdig ausfällt; z.B. die Fragen, ob man eher den weisen Männern oder eher dem Vater gehorchen solle? ferner: Ob man das Nützliche, oder das Gerechte thun solle? und ob man eher Unrecht erleiden, als einen Anderen beschädigen solle? Der Sophist muss dem Antwortenden in den Gegensatz zwischen der Meinung der Menge und der der Weisen verwickeln; spricht er also, wie die Kenner der Sache, so muss er auf die Meinung der Menge geleitet, und wenn er nach der Meinung der Menge spricht, auf die Meinung der Kenner geleitet werden. Denn nach diesen muss der Glückliche auch immer gerecht sein, während der Menge es verkehrt vorkommt, dass ein König nicht glücklich sei. Uebrigens ist die Verleitung zu solchen unglaubwürdigen Behauptungen derjenigen ganz gleich, welche in den Gegensatze von Natur und Gesetz verwickelt. Denn das Gesetz ist das, was die Menge billigt, während die Weisen der Natur und Wahrheit gemäss sich aussprechen.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 27-29.
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