Vierzehntes Kapitel

[30] Was ein Sprachfehler ist, habe ich früher dargelegt. Ein solcher kann erstens wirklich begangen werden; zweitens kann es nur so scheinen, dass man einen begeht, ohne dass es doch geschieht, und drittens kann er begangen werden, ohne dass es so scheint, wie z.B. Protagoras sagte, dass der Zorn und der Helm Worte weiblichen Geschlechts seien; wer also der verderbliche Zorn und der Helm sagte, der beging nach ihm einen Sprachfehler, aber nicht nach der Meinung der übrigen[30] Menschen; wer dagegen: die verderblichen sage, der fehle nach ihm zwar scheinbar aber nicht wirklich. Es erhellt, dass man dies wohl auch durch Kunstgriffe erreichen kann; deshalb scheinen viele Reden der Sophisten einen Sprachfehler zu beweisen, ohne dass es wirklich der Fall ist, wie ja das Gleiche auch bei den Widerlegungen geschehen kann.

Beinah alle scheinbaren Sprachfehler werden entweder durch das Neutrum veranlasst, oder dadurch, dass gewisse Beugungen der Worte das Männliche oder Weibliche nicht ausdrücken, sondern das zwischen ihnen liegende Neutrum. So bezeichnet das »Dieser« das männliche Geschlecht und das »Diese« das weibliche; dagegen will das »Dieses« (als Neutrum) das zwischen jenen beiden Befindliche bezeichnen, oft aber bezeichnet es auch eines von jenen beiden; z.B. bei der Frage: Was ist dieses? Antwort: Dieses ist die Kalliope, oder das Holz, oder der Koriskos. Bei den männlichen und weiblichen Worten lauten die Beugungsfälle sämmtlich verschieden; dagegen ist es bei den zwischen ihnen stehenden Worten nur theilweise der Fall. Oft wird nun blos »dieses« (das Neutrum) eingeräumt, aber geschlossen wird dann, als hätte man »diesen« gesagt. Ebenso wird ein Beugungsfall statt eines andern benutzt, der Fehlschluss kommt dann dadurch zu Stande, dass das »Dieses« für mehrere Beugungsfälle gilt, denn das »Diesen« bezeichnet bald den Nominativ, bald den Accusativ, und es muss beide Bedeutungen wechselsweise annehmen. Wird es mit dem »er ist« verbunden, so ist das »Dieser« gemeint und mit dem »sein« verbunden, wird das »Diesen« gemeint; z.B. »der Koriskos ist« und »den Koriskos sein«. Auch mit den weiblichen Worten verhält es sich ebenso; desgleichen mit dem sogenannten »Geräthe«, was bald eine männliche, bald eine weibliche Benennung hat. Blos die Stücke, welche sich auf z oder b endigen, werden mit dem Neutrums-Namen des Geräthes belegt, wie das Holz und das Sieb; die Worte aber, die nicht so endigen, sind männlicher oder weiblicher Art, und auch von diesen bezieht man einige auf das Geräthe; so ist der Schlauch männlichen Geschlechts und die Bettstelle weiblichen Geschlechts. Daher wird sich auch bei diesen das »Ist« und das »Sein« in der gleichen Weise unterscheiden.[31]

In gewisser Weise gleicht die Benutzung der Sprachfehler denjenigen Widerlegungen, welche sich darauf stützen, dass Ungleiches doch dieselbe Bezeichnung führt; so wie dort der Sprachfehler in Bezug auf die Gegenstände selbst begangen wird, so geschieht es hier mit den Namen; so ist z.B. »Mensch« und »Weisses« sowohl ein Gegenstand, wie ein Name. Man muss daher suchen, den Sprachfehler aus den hier genannten Beugungen der Namen zu folgern.

Dies sind sonach die Arten und die Unterarten und die besprochenen Gesichtspunkte bei streitigen Erörterungen. Indess macht es einen grossen Unterschied, ob die Fragen hierbei so gestellt werden, dass der Kunstgriff nicht bemerkt werden soll, wie dies bei den dialektischen Fragen geschieht. Ich werde daher, anschliessend an das bisher Gesagte, dies zunächst besprechen.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 30-32.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
Philosophische Bibliothek, Bd.13, Sophistische Widerlegungen (Organon VI)
Organon Band 2. Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck. Griechisch - Deutsch
Das Organon (German Edition)