Fünfundzwanzigstes Kapitel

[53] Soviel sei daher gesagt, dass der allgemeine Beweis besser ist, als der beschränkte. Dass aber der bejahende Beweis besser ist, als der verneinende erhellt aus Folgendem. Es wird, wenn alles Andere gleich bleibt, derjenige Beweis der Bessere sein, welcher aus weniger Forderungen, oder Voraussetzungen oder Vordersätzen abgeleitet wird; denn wenn auch die Vordersätze[53] in beiden Fällen gleich bekannt sind, so wird man doch bei weniger solchen Sätzen das Wissen schneller erlangen; und dies ist doch ein Vorzug. Der Grund, weshalb der Beweis aus weniger Vordersätzen besser ist, ist indess ein allgemeiner. Wenn nehmlich die Mittelbegriffe gleich bekannt sind, die denselben vorgehenden Begriffe aber bekannter sind, so soll durch die Mittelbegriffe B, C, D der Beweis geführt werden, dass A in E enthalten, und es soll auch durch die Mittelbegriffe Z, H bewiesen werden, dass A in E enthalten ist. Hier ist das Wissen, dass im ersten Falle A in D enthalten ist das dem Grade nach gleiche, wie das, dass im zweiten Falle A in E enthalten ist; und im ersten Schlüsse ist das Wissen, dass A in D enthalten ist, das Frühere und Bekanntere, gegen das aus dem ersten Schlüsse sich ergebende Wissen, dass A in E enthalten; denn dasselbe wird hier aus dem Satze A D erst abgeleitet und der Grund ist immer das Glaubhaftere.

Sonach ist also der Beweis durch weniger vorgehende Sätze besser, wenn alles Uebrige gleich ist. Nun werden zwar sowohl die bejahenden, wie die verneinenden Beweise mittelst dreier Begriffe und zweier Vordersätze geführt; allein der bejahende Beweis setzt dabei nur dass etwas ist, der verneinende Beweis aber sowohl dass etwas ist, wie auch, dass etwas nicht ist; also vollzieht sich letzterer durch Mehreres und ist deshalb schlechter.

Ferner habe ich dargelegt, dass wenn beide Vordersätze verneinend lauten, kein Schlusssatz daraus abgeleitet werden kann; vielmehr kann nur der eine Vordersatz so lauten, der andere muss aber bejahend lauten. Hierzu kommt aber noch, dass bei einem an Vordersätzen zunehmenden Beweise, der bejahenden Vordersätze mehr werden müssen, während an verneinenden Vordersätzen in dem ganzen Schlüsse nie mehr als einer vorkommen kann. So soll z.B. A in keinem B, aber B in allen C enthalten sein. Im Falle nun beide Vordersätze vermehrt werden sollten, so müsste ein Mittelbegriff eingeschoben werden. Dieser Mittelbegriff soll für den Satz A B, D und für den Satz B C, E sein; hier muss E offenbar einen bejahenden Satz abgeben und D muss sich zu B bejahend und zu A verneinend[54] verhalten, denn D muss in allen B, aber in keinem A enthalten sein; mithin entsteht nur ein verneinender Vordersatz, nehmlich der mit A D.

Dasselbe gilt auch für die übrigen Schlussfiguren; denn der Mittelbegriff zu einem bejahenden Satze muss sich immer bejahend zu den beiden Begriffen desselben verhalten. Dagegen kann der Mittelbegriff zu einem verneinenden Satze nur zu einem von beiden Begriffen verneinend lauten, so dass überhaupt nur ein verneinender Vordersatz sich ergeben kann und die übrigen bejahend lauten müssen. Wenn nun die Sätze, durch welche etwas bewiesen wird, bekannter und zuverlässiger sind, der verneinende Beweis aber auf den bejahenden Beweis sich stützt, während dieser jenen zum Beweise nicht benutzt, so wird der bejahende Beweis als der bekanntere und frühere und zuverlässigere auch der bessere sein.

Ferner ist die Grundlage des Schlusses der allgemeine unvermittelte Obersatz und dieser lautet in dem bejahenden Beweise bejahend, in dem verneinenden Beweise aber verneinend; da jedoch der bejahende Satz früher und bekannter ist als der verneinende, weil die Verneinung erst durch die Bejahung erkannt wird und durch die Bejahung des Früheren ist, ebenso wie das Sein früher ist, als das Nichtsein, so erhellt, dass die Grundlage des bejahenden Beweises besser ist, als die des verneinenden Beweises; und ein Beweis, welcher sich auf eine bessere Grundlage stützt, ist selbst der bessere. Auch ist er mehr der Anfang alles Wissens denn ohne den bejahenden Beweis gäbe es keinen verneinenden.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 53-55.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
Philosophische Bibliothek, Bd.13, Sophistische Widerlegungen (Organon VI)
Organon Band 2. Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck. Griechisch - Deutsch
Das Organon (German Edition)