Fünftes Kapitel

[10] Man darf nicht übersehen, dass man oft einen Fehler begeht, und dass das oberste Allgemeine in der Art nicht besteht, wie es scheint bewiesen worden zu sein. Man geräth in diesen Irrthum, wenn entweder nichts Höheres über das Einzelne oder die Einzelnen zu erfassen ist, oder wenn dies zwar der Fall ist, aber das Höhere von den der Art nach verschiedenen Dingen keinen Namen hat, oder wenn es sich trifft, dass das Ganze in den Theilen enthalten ist und man jenes an diesen Theilen beweisst; denn hier wird wohl der Beweis für die einzelnen Theile und damit für alle gelten, aber dennoch wird dies nicht ein Beweis für das oberste Allgemeine sein. Ich nenne es nämlich dann einen Beweis des obersten Allgemeinen als solchen, wenn er gerade dies oberste Allgemeine beweist; wenn also z.B. jemand bewiese, dass die Linien an zwei gegenüberliegenden rechten Winkeln nicht zusammentreffen und meinte dies sei der Beweis, der sich auf alle Linien mit zwei rechten Winkeln erstrecke. Allein dies ist nicht der Fall, da der Beweis nicht so geführt werden darf, dass die Winkel in dieser Weise gleich seien, sondern darauf, dass die Linien nicht zusammentreffen, wie auch die beiden Winkel zusammen zweien rechten gleich sein mögen. Oder wenn man keine andern Dreiecke als nur die gleichschenklichen betrachtete und man glaubte, der Satz, dass die Winkel eines Dreiecks zweien rechten gleich sein, gelte nur, weil sie gleichschenklich seien. Ebenso würde es sich mit dem Satze verhalten, dass die Glieder einer Proportion sich versetzen lassen, mögen diese Glieder Zahlen oder Linien, oder Körper, oder Zeiten sein, wenn dieser Satz etwa für jede dieser Arten besonders bewiesen würde, während es doch ausführbar ist, dass der Satz für alle Arten durch einen Beweis dargelegt werden kann. Da jedoch die Zahlen, Längen, Zeiten und Körper für das, worin sie alle Eins sind, keinen Namen haben und da sie selbst der Art nach verschieden sind, so wurde es an den einzelnen Arten bewiesen; jetzt wird aber der Beweis allgemein geführt, denn jene Bestimmung wohnt ihnen nicht als Linien oder Zahlen ein, sondern insofern sie das sind,[11] was als Allgemeines in ihnen enthalten angenommen wird. Wenn daher auch jemand für einzelne Dreiecke durch einen oder durch verschiedene Beweise darlegte, dass jedes zwei rechte Winkel enthält und dies besonders für das gleichseitige und besonders für das ungleichseitige und besonders für das gleichschenkliche bewiese, so würde er deshalb doch nicht wissen, dass das Dreieck zwei rechte Winkel enthalte, als höchstens in dem sophistischen Sinne und er würde das allgemeine Dreieck nicht kennen und nicht wissen, ob es neben jenen noch andere Dreiecke gebe; denn er weiss den Satz nicht von dem Dreieck als solchen, noch von allen Dreiecken als nur der Zahl nach, aber nicht von allen der Art nach und er weiss nicht, ob nicht noch eines besteht, was er nicht kennt. Wenn würde er nun das Allgemeine nicht wissen und wenn würde er es schlechthin wissen? Offenbar würde er auch in jenem Falle das Allgemeine wissen, wenn das allgemeine Dreieck dasselbe wäre, wie das gleichschenkliche oder wie das einzelne oder wie alle einzelnen. Ist dies aber nicht der Fall, sondern sind sie verschieden und gilt der Satz nur für das Dreieck als solches, so weiss er es nicht. Gilt nun der Satz vom Dreieck als solchen, oder von dem gleichschenklichen als solchen? und wenn gilt er von diesen als obersten Allgemeinen? und welches Allgemeine ist zu beweisen? Offenbar gilt der Satz dann vom Allgemeinen, wenn nach Wegnahme jener Nebenbestimmungen er in jenem Obersten enthalten ist. So sind z.B. in dem gleichschenklichen ehernen Dreieck zwei rechte Winkel enthalten, allein sie sind es auch noch dann, wenn das Gleichschenkliche und Eherne weggenommen worden ist; aber sie sind auch nicht in der Figur oder in den Begrenzten überhaupt enthalten und nicht in ihnen, als den obersten Begriffen. Welches ist nun für sie das oberste? Wäre dies das Dreieck überhaupt, so sind die zwei rechten Winkel in Bezug auf dieses in den besondern Dreiecken enthalten und der Beweis ist also auf dieses Allgemeine zu richten.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 10-12.
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