Zwölftes Kapitel

[84] Ein und Dasselbe kann Ursache sein für Dinge, die werden und für Dinge, die geworden sind und für Dinge, welche künftig werden; ebenso auch für die Dinge, welche sind. Denn das Mittlere ist die Ursache, jedoch nur als seiendes für die seienden Dinge und als werdendes für die werdenden Dinge und als gewordenes für die gewordenen Dinge und als künftig werdendes für die künftig werdenden Dinge. So frägt es sich z.B. wodurch ist die Mondfinsterniss geworden? Antwort: Weil die Erde in die Mitte zwischen Mond und Sonne gekommen war; und sie wird, weil dieses wird und sie wird werden, weil dieses in die Mitte kommen werden wird und sie ist, weil die Erde in der Mitte ist. Ferner: Was ist das Eis? Man nehme an, dass es gefrornes Wasser sei; das Wasser soll nun C sein, das Gefrorne A und die Ursache als das Mittlere, nämlich der völlige Mangel an Wärme sei B. Hier ist B in C enthalten und in B ist das Gefrorensein, oder A enthalten. Also wird Eis, wenn B wird und es ist geworden, wenn B geworden ist und es wird werden, wenn B werden wird.

Die Ursache dieser Art und Dasjenige, dessen Ursache sie ist, entstehen zugleich, wenn sie entstehen und sind zugleich, wenn sie sind; und ebenso verhält es sich mit dem Gewordensein und künftigen Werden derselben. Wo aber Ursache und Wirkung nicht zugleich in derselben[84] stetigen Zeit sind, ist da, wie es mir scheint, ein Anderes die Ursache von der Wirkung? also ein Anderes Werdendes die Ursache von der werdenden Wirkung und ein Anderes künftig Werdendes die Ursache der künftig werdenden Wirkung und ein Anderes Gewordenes die Ursache von der gewordenen Wirkung? Der Schluss geht hier von dem später Gewordenen aus; aber der Anfang liegt auch für solche Fälle in dem, was vorher geworden ist und deshalb verhält es sich auch mit dem Werdenden so. Dagegen kann man von dem Früheren hier nicht schliessen, z.B. dass weil dieses geworden ist, nun später jenes werden müsse. Dies gilt auch für das Zu künftig-Werdende; denn man mag die Zwischenzeit bestimmt oder unbestimmt annehmen, immer wird man, wenn man in Wahrheit sagen kann, dass das Eine geworden ist, nicht in Wahrheit sagen können, dass das Spätere geworden sei. Denn für die Zwischenzeit wäre es falsch, zu sagen, das Spätere sei, während das Frühere schon geworden ist. Dies gilt auch für das Zukünftig-Werdende. Auch kann man nicht sagen, dass nachdem das Eine geworden sei, das Andere später werden werde; denn das Mittlere muss gleichartig sein, also von Gewordenen ein Gewordenes, von zukünftig Werdendem ein zukünftig Werdendes, von dem gegenwärtig Werdenden ein gegenwärtig Werdendes und von dem Seienden ein Seiendes; zwischen Gewordenen und zukünftig Werdenden ist aber kein Gleichartiges möglich; auch kann die Zwischenzeit weder unbestimmt, noch bestimmt sein; denn es würde falsch sein, wenn man sagen wollte, dass etwas in der Zwischenzeit sei.

Es ist jedoch hier zu untersuchen, was das Stetige ist, so dass nach dem Gewordensein das Werden in den Dingen enthalten ist. Hier ist aber klar, dass das Werdende nicht an das Gewordene angrenzen kann und auch nicht das Gewordene an das Gewordene, denn jedes ist begrenzt und untheilbar. Wie daher die Punkte nicht aneinander grenzen können, so können es auch die gewordenen Dinge nicht, denn beide sind untheilbar. Aus demselben Grunde kann auch das Werdende nicht an das Gewordene angrenzen, denn das Werdende ist theilbar, aber das Gewordene untheilbar. So wie sich daher die Linie zu dem Punkte verhält, so verhält sich das Werdende[85] zu dem Gewordenen; denn in dem Werdenden sind unendlich viele Gewordene enthalten. Noch deutlicher soll hierüber in der allgemeinen Lehre über die Bewegung gehandelt werden.

Wie sich nun bei dem der Reihe nach Gewordenen die Ursache, als Mittleres verhält, darüber sei das Folgende bemerkt; denn auch in solchem Falle muss das Mittlere und das Oberste selbst unvermittelt sein; wie z.B. A geworden ist, weil C geworden ist; C ist aber später und A vor ihm geworden. Aber C ist der Anfang, weil es dem Jetzt näher steht, welches der Anfang der Zeit ist. C ist aber geworden, wenn D geworden ist. Wenn also D geworden ist, so muss A nothwendig vorher geworden sein. Der Grund hierfür ist C. Denn wenn D geworden ist, so muss C früher geworden sein und wenn C geworden ist, so muss A vor ihm geworden sein. Wenn man den Hergang so auffasst, wird da die Mittelursache irgendwo bei einem Unvermittelten anhalten, oder wird es immer fort ohne Ende weiter gehen? Allein das Gewordene grenzt nicht, wie bemerkt, an das Gewordene; also muss nothwendig von einem Mittleren und einen dem Jetzt Nächsten angefangen werden. Dies gilt auch für das künftig Werdende; denn wenn man in Wahrheit sagen kann, dass D werden wird, so muss man in Wahrheit sagen, dass A vorher werden wird. Nun ist aber C der Grund von diesem; denn wenn D sein wird, so wird vorher C sein und wenn C sein wird, so wird vorher A sein. Auch bei diesen ist die Theilung ohne Ende, denn auch das in Zukunft Werdende grenzt nicht aneinander. Es muss also auch bei diesen ein unvermittelter Anfang angenommen werden. Bei den menschlichen Werken verhält es sich ebenso; wenn ein Haus geworden ist, so müssen Steine behauen und geworden sein; und weshalb dies? Weil nothwendig ein Fundament gelegt worden sein muss, wenn ein Haus zu Stande gekommen sein soll; soll aber ein Fundament gelegt worden sein, so müssen vorher Steine geworden sein. Ebenso werden, wenn ein Haus in Zukunft werden soll, vorher die Steine werden müssen. Auch hier wird dies durch das Mittlere in gleicher Weise bewiesen; denn das Fundament wird das frühere sein.

Bei den werdenden Dingen sieht man mitunter ein[86] Werden sich im Kreise vollziehen; dies würde dann möglich sein, wenn das Mittlere und die äussern Begriffe gegenseitig von einander ausgesagt werden können. Denn bei solchen Urtheilen findet die Umkehrung statt. Nun ist in den ersten Analytiken gezeigt worden, dass die Sätze im Schlüsse sich umkehren lassen und dies geschieht in dem Zirkelschluss. Bei wirklichen Vorgängen zeigt sich dies in folgender Weise: Wenn die Erde benetzt worden ist, so muss Dunst entstehen und wenn dieser entstanden, Wolken, und wenn diese geworden sind, Wasser, und wenn dieses geworden ist, muss die Erde benetzt werden. Nun war aber diese Benetzung das Erste und der Wechsel ist deshalb im Kreise gegangen; denn wenn irgend Eines von diesen Dingen ist, so entsteht auch das Andere und dann das Dritte, und wenn dieses ist, wieder das Erste.

Manches Werdende ist allgemeiner Natur (denn es verhält sich, oder wird so immer und in jedem Falle); anderes zwar nicht immer, aber meistentheils; so wächst z.B. nicht jedem Manne ein Bart, aber doch den meisten. In solchen Fällen kann auch der vermittelnde Grund nur ein meistentheils geltender sein. Denn wenn A von dem B allgemein ausgesagt wird und ebenso B allgemein von C, so muss auch A von C allgemein und für jedes Einzelne von C ausgesagt werden; denn dies ist die Natur des Allgemeinen, dass es für jedes Einzelne und immer gilt. Nun war aber angenommen, dass Etwas blos meistentheils gelte, folglich kann auch der vermittelnde Grund B nur meistentheils gelten. Für Alles, was in dieser Weise meistentheils ist oder wird, werden deshalb die unvermittelten obersten Grundsätze nur meistentheils gelten.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 84-87.
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