Sechzehntes Kapitel

[95] In Bezug auf die Ursache und deren Wirkung könnte man zweifeln, ob wenn die Wirkung da ist, auch die Ursache da ist; wenn also z.B. das Laub fällt, oder eine Mondfinsterniss ist, ob dann auch die Ursache der Mondfinsterniss und des Laubfallens besteht? Z.B. ob die Ursache davon darin besteht, dass der Baum breite Blätter hat und die Ursache der Mondfinsterniss darin, dass die Erde zwischen Mond und Sonne sich befindet; denn wenn dies nicht der Fall ist, so wird etwas Anderes die Ursache davon sein. Ist dagegen die Ursache vorhanden, so ist auch die Wirkung da; ist also z.B. die Erde in der Mitte, so ist auch die Mondfinsterniss vorhanden oder hat der Baum breite Blätter, so verliert er auch sein Laub. Wenn es sich so verhält, so wäre beides gleichzeitig und eins könnte durch das andere bewiesen werden. Denn es sei A das Fallen des Laubes, B das Haben von breiten Blättern, und C der[95] Weinstock. Wenn also A in B enthalten ist (denn jeder breitblättrige Baum verliert sein Laub) und B in C enthalten ist (denn jeder Weinstock hat breite Blätter), so wird auch A in C enthalten sein und jeder Weinstock wird sein Laub verlieren; der Grund davon liegt in dem Mittleren, dem B.

Man kann aber auch durch das Laubabfallen beim Weinstock beweisen, dass er breite Blätter hat. Denn D soll das Haben von breiten Blättern bedeuten, E das Fallen des Laubes und Z den Weinstock. Nun ist E in Z enthalten (denn alle Weinstöcke verlieren ihr Laub) und D ist in E enthalten (denn alles, was sein Laub verliert, ist breitblättrig), also ist jeder Weinstock breitblättrig, und der Grund liegt in seinem Laub verlieren. Wenn aber beide nicht gegenseitig die Ursache von einander sein können (denn die Ursache ist früher als die Wirkung) und wenn der Umstand, dass die Erde in der Mitte ist, die Ursache von der Mondfinsterniss ist, so kann die Mondfinsterniss nicht die Ursache davon sein, dass die Erde in der Mitte ist. Wenn nun der durch die Ursache geführte Beweis ein Beweis des Warum ist und wenn ein Beweis, welcher nicht durch die Ursache geführt wird, nur ein Beweis des Dass ist, so weiss man im letztem Falle wohl, dass die Erde in der Mitte ist, aber man kennt nicht das Warum. Es ist aber klar, dass die Mondfinsterniss nicht die Ursache davon ist, dass die Erde in der Mitte ist, sondern dass vielmehr letzteres die Ursache der Finsterniss ist; denn in dem Begriffe der Mondfinsterniss ist das in der Mitte sein enthalten und es ist also klar, dass dadurch jene erkannt wird; aber nicht dieses durch jene.

Oder sollte es mehrere Ursachen für einen Vorgang geben können? Denn wenn man dieselbe Bestimmung von mehreren oberen Begriffen aussagen kann, so soll A in dem obern Begriffe B enthalten sein und ebenso in einen andern obern Begriffe C und diese obern Begriffe sollen der erste in D, der andere in E enthalten sein. Demnach wird A in D und E enthalten sein und der Grund dafür ist bei D das B und bei E das C. Wenn nun mit dem Eintreten der Ursache auch die Sache da sein muss, aber aus dem Dasein der Sache nicht folgt, dass alles, was Ursache sein kann, da sein[96] müsse, so muss wohl eine Ursache da sein, aber es müssen nicht alle Ursachen da sein. Oder es muss wohl, wenn die Aufgabe immer etwas Allgemeines stellt und die Ursache etwas Ganzes ist, auch die Wirkung allgemein sein. So ist z.B. das Laub – abfallen bei einem bestimmten Ganzen aufgestellt, wenn letzteres auch in mehrere Arten zerfällt und es ist bei dessen Arten allgemein vorhanden, mögen dies nun Pflanzen überhaupt oder Pflanzen von bestimmterer Beschaffenheit sein. Deshalb muss auch das Mittlere bei diesen Arten sich gleich verhalten, und ebenso seine Wirkung und beide müssen sich umkehren lassen. Z.B.: Weshalb verlieren die Bäume ihr Laub? Geschieht es, weil der Saft vertrocknet, so muss, wenn der Baum sein Laub verliert, eine Vertrocknung des Saftes bei ihm vorhanden sein, und wenn eine Vertrocknung des Saftes statt hat (nur nicht in jedem beliebigen Baume), so muss er sein Laub verlieren.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 95-97.
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