Neunzehntes Kapitel

[99] In Betreff des Schlusses und Beweises ist somit klar, was jedes von beiden ist und wie jedes entsteht; zugleich gilt dies auch für die beweisbare Wissenschaft, denn sie ist dasselbe mit jenen. Dagegen werden die Fragen, wie man die obersten Grundsätze erkennt und welches das sie erkennende Vermögen ist, von hier aus klar werden, wenn wir zunächst die hierbei sich erhebenden Bedenken erörtert haben werden.

Dass man kein Wissen durch Beweise erlangen kann, wenn man nicht die obersten und unvermittelten Grundsätze kennt, habe ich früher dargelegt. Dagegen könnte man darüber zweifelhaft sein, ob das Wissen dieser unvermittelten Sätze dasselbe sei, wie das Wissen, was durch Schlüsse vermittelt ist und ob es von beiden eine und dieselbe Wissenschaft giebt oder nicht, oder ob von dem einen es zwar eine Wissenschaft giebt, aber von dem anderen eine andere Art Kenntniss; und ob wir den Besitz der letztem nicht haben, sondern erwerben, oder ob sie uns einwohnt und wir sie nur nicht bemerken. Wäre letzteres der Fall, so wäre dies widersinnig; denn dann folgte, dass man ein Wissen habe, was noch genauer wäre, als das durch Beweis erlangte, ohne es zu bemerken. Erwirbt man aber dies Wissen, was man also früher nicht gehabt hat, so entsteht die Frage, wie man es lernen und wie man damit bekannt werden könne, obgleich doch kein Wissen vorher bestanden hat? Denn ohnedem ist dies unmöglich, wie ich bei der Lehre vom Beweise dargelegt habe. Es ist also klar, dass man ein solches Wissen unmöglich von Anfang ab haben kann, noch dass es entstehen kann, wenn man kein Wissen und Keinerlei Anlage dazu hat. Man muss also ein gewisses Vermögen dafür besitzen, aber kein solches, welches in Genauigkeit das auf den Beweis beruhende Wissen übertrifft.

Ein solches Vermögen scheint nun in allen Geschöpfen vorhanden zu sein; denn alle haben ein angebornes Unterscheidungsvermögen, was der Sinn genannt wird. In Folge dieses vorhandenen Sinnes erhält sich bei manchen Thieren von der Wahrnehmung etwas Bleibendes,[100] bei andern aber nicht. Wo dies nicht statt hat, sei dies überhaupt nicht oder nur bei den Dingen nicht, für die sich etwas Bleibendes nicht erhält, da fehlt diesen Geschöpfen jedes Wissen neben dem Wahrnehmen; wo sich aber die Wahrnehmungen erhalten, da können die Geschöpfe, wenn sie etwas wahrgenommen haben, dies auch in der Seele behalten. Wenn dergleichen Vorstellungen sich viele gesammelt haben, so entsteht wieder ein Unterschied, indem bei manchen Geschöpfen aus solchen bleibenden Vorstellungen ein Begriff sich bildet, bei andern aber nicht. Aus den Wahrnehmungen bilden sich, wie gesagt, bleibende Vorstellungen und aus diesen, wenn sie in Bezug auf ein und denselben Vorgang oft eintreten, die Erfahrung; denn die der Zahl nach vielen Erinnerungen werden zur einen Erfahrung. Aus der Erfahrung, oder aus dem Ganzen und Allgemeinen, was in der Seele beharrt, aus dem Einen neben den Vielen, welches als Ein und Dasselbe in allen jenen enthalten ist, entsteht dann die Kunst und die Wissenschaft, und zwar die Kunst, wenn es sich um das Werden handelt und die Wissenschaft, wenn es sich um das Seiende handelt. Es bestehen also keine getrennten Vermögen in der Seele, noch entstehen sie aus andern stärker erkennenden Vermögen, sondern sie entstehen aus den Wahrnehmungen; gleich dem, wenn in der Schlacht eine Flucht entstanden ist und dann, wenn Einer stehen bleibt, auch der Andere und wieder ein Anderer stehen bleibt, bis es zum Obersten gelangt.

Die Seele ist aber von der Art, dass sie Dergleichen erleiden kann. Was ich früher hierüber gesagt habe, ist nicht deutlich gewesen; ich komme deshalb noch einmal darauf zurück. Wenn nämlich eine Vorstellung von gleichen Dingen sich erhält oder beharrt, so ist dies zuerst das Allgemeine in der Seele. (Denn man nimmt zwar das Einzelne wahr, aber die Wahrnehmung enthält auch das Allgemeine, z.B. den Menschen und nicht den Menschen Kallias.) Denn hält man wieder bei diesen zunächst erlangten Allgemeinen an, bis das Einfache und Allgemeine hervortritt, z.B. bei dem so beschaffenen Thiere, bis das Thier überhaupt hervortritt. Mit diesem geschieht es dann ebenso.

Es ist somit klar, dass wir mit den obersten Begriffen[101] und Grundsätzen nur durch Induktion bekannt werden können, denn auch die Wahrnehmung bringt so das Allgemeine in die Seele. Nun sind aber von den denkenden Vermögen, mittelst deren wir die Wahrheit gewinnen, manche immer wahr, andere sind dagegen auch des Falschen fähig, wie die Meinung und das Schliessen. Immer wahr ist die Wissenschaft und die Vernunft und keine andere Gattung der Wissenschaft ist genauer, als die Vernunft. Nun sind aber die obersten Grundsätze bei den Beweisen das Bekanntere und alle Wissenschaften beruhen auf Gründen; deshalb wird es keine Wissenschaft von den obersten Begriffen und Grundsätzen geben. Nun giebt es aber nichts als die Vernunft was wahrhafter ist, als die Wissenschaften; deshalb wird die Vernunft die obersten Begriffe und Grundsätze erkennen. Dies ergiebt sich auch aus der Erwägung, dass der Ausgangspunkt aller Beweise nicht wieder ein Beweis sein kann, also auch der Ausgangspunkt aller Wissenschaft nicht wieder eine Wissenschaft. Da man nun neben der Wissenschaft keine andere wahrhafte Art des Wissens hat, so wird die Vernunft der Ausgangspunkt der Wissenschaften sein. Sie ist also gleichsam der Anfang des Anfanges und sämmtliche Wissenschaften verhalten sich eben so zu sämmtlichen Gegenständen.[102]

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.].
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