Siebentes Kapitel

[75] Wie soll nun bei der Definition das Wesen oder das Was des Gegenstandes bewiesen werden? Man kann weder, wie der, welcher aus zugestandenen Sätzen etwas beweist, darlegen, dass wenn gewisse Bestimmungen gelten, ein drittes dann sich ergebe; denn darin besteht der Beweis; noch kann man es so machen, wie der, welcher vermittelst der bekannten einzelnen Dinge und der Induktion darlegt, dass Alles sich so verhalte, weil keines sich anders verhält; denn ein solcher beweist nicht das Was eines Gegenstandes, sondern blos, dass er ist oder nicht ist. Welche andere Verfahrungsweise bleibt da noch übrig ? Denn man kann es doch nicht durch Wahrnehmen oder durch Zeigen mit dem Finger beweisen.

Ferner: Wie soll man das Was beweisen? Denn[75] wenn man weiss, was der Mensch oder sonst ein Gegenstand ist, so muss man nothwendig auch wissen, dass er ist. Denn von dem Nicht-Seienden weiss Niemand, was es ist; man weiss wohl, was das Wort oder der Name bezeichnet, wenn man »Bockhirsch« sagt, aber wissen kann man nicht, was er ist. Aber selbst wenn man bewiese, was er ist und dass er ist, wie könnte dies mit einer Rede geschehen? Denn die Definition wie der Beweis würden jedes dann nur Eines von beiden darlegen, während doch das Was des Menschen etwas anderes ist, als das Dasein des Menschen.

Ferner sagt man, dass durch den Beweis von allem, mit Ausnahme des Wesens, bewiesen werden muss, dass es ist; aber das Sein macht bei keinem Gegenstand sein Wesen aus; denn das Seiende ist keine Gattung. Der Beweis geht also nur dahin, dass Etwas ist, wie es jetzt auch die Wissenschaften machen. Denn der Geometer setzt voraus, was das Dreieck bedeutet; und er beweist nur, dass es ist. Was wird nun der, welcher das Was eines Gegenstandes definirt, beweisen? doch nicht etwa, dass das Dreieck ist? Also wird der, welcher vermittelst der Definition das Was des Gegenstandes kennt, nicht wissen, dass er ist; was doch unmöglich ist.

Auch erhellt aus den jetzt üblichen Weisen der Definitionen, dass die, welche die Definition eines Gegenstandes geben, dabei nicht beweisen, dass er ist. Denn wenn auch die Linien vom Mittelpunkt des Kreises nach seinen Umring gleich sind, so kann man immer noch fragen: Weshalb ist aber der so definirte Gegenstand? Und: weshalb ist dies ein Kreis? Man könnte ja dasselbe auch anders, etwa Messing nennen. Die Definitionen legen also weder die Möglichkeit des Seins des definirten Gegenstandes dar, noch dass er das ist, was die Definition besagt; vielmehr kann man dabei immer noch nach dem Warum fragen.

Wenn also der Definirende nur entweder das Was oder was der Name bedeutet beweisen könnte, und wenn das erstere durchaus nicht stattfinden kann, so würde die Definition ein Satz sein, der dasselbe anzeigt, was ein Name des Gegenstandes anzeigt. Allein dies wäre widersinnig. Denn erstens gäbe es dann auch Definitionen von dem, was kein Wesen ist und von dem, was nicht[76] ist; denn einen Namen geben kann man auch dem Nichtseienden. Ferner würden dann alle Sätze auch Definitionen sein; denn man könnte jeder Rede einen Namen geben, so dass wir dann Alle in Definitionen sprechen würden und die Ilias würde dann eine Definition sein. Ferner beweist keine Wissenschaft, dass dieser Name gerade diese Sache bedeute; und deshalb werden auch die Definitionen dies nicht darlegen.

Nach alledem scheint es, dass die Definition und der Schluss nicht dasselbe sind und dass auch nicht von demselben Inhalt ein Schluss und eine Definition statt hat; und ausserdem, dass die Definition Nichts beweist und nichts darlegt und dass man das Was eines Gegenstandes weder durch Definition noch durch Beweis erkennen kann.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 75-77.
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