Neuntes Capitel

[24] Berührt wohl haben sie auch einige Andere, aber nicht genügend. Zuvörderst nämlich geben sie zu, daß schlechthin etwas werde aus Nichtseiendem, wie Parmenides richtig sage. Sodann erscheint es ihnen wie der Zahl, so auch dem möglichen Inhalte nach nur als Eines. Hierauf aber kommt sehr viel an. Wir nämlich behaupten, daß Stoff und Verneinung ein anderes ist, und daß von diesen das eine Nichtseiendes nur nebenbei ist, der Stoff, die Verneinung hingegen, an sich; das eine fast auch Wesen, der Stoff; die Verneinung aber keinesweges. Jene aber machen zum Nichtseienden das Große und das Kleine auf gleiche Weise: entweder beides zumal, oder jedes von beiden besonders. Ganz und gar eine andere ist also diese Weise der Dreiheit, und jene. Bis hierher nämlich drangen sie vor, daß irgend eine Wesenheit zum Grunde liegen muß. Diese jedoch machen sie zu Einer. Denn wenn man auch eine Zweiheit annimmt, und sie Groß und Klein nennt, so bleibt sie nichts desto weniger Ein und dasselbe. Denn die eigentlich andere übersah man, die Verneinung. Die eine jener Wesenheiten nämlich bleibt bestehen und ist Mitursache der Form der werdenden Dinge. Die andere aber, Glied des Gegensatzes, könnte gar oft, wenn man auf ihre zerstörende Natur den Sinn gerichtet[24] hält, ganz und gar nicht zu sein scheinen. Setzen wir ein Göttliches und Gutes und Begehrenswerthes, so sagen wir, daß etwas ihm entgegengesetzt ist, ein anderes aber die Bestimmung hat, es zu begehren und anzustreben, nach seiner eigenen Natur. Jenen aber begegnet, daß das Entgegengesetzte seinen eigenen Untergang anstrebt. Und doch kann weder sich selbst begehren das Formwesen, weil es nicht bedürftig ist, noch das Gegentheil. Denn Untergang bringend einander gegenseitig sind die Gegentheile. Vielmehr ist dieß der Stoff, z.B. wenn das Weibliche das Männliche, oder wenn das Häßliche das Schöne begehrt. Nur daß er nicht an sich häßlich ist, sondern nebenbei, noch weiblich, sondern nebenbei. Vergehen und Entstehen kommt ihm von der Seite zu, von den andern aber nicht. Als das nämlich, was in dem Andern ist, kann er an sich untergehen; das was untergeht, ist nämlich hier die Verneinung. Nach seiner Kraft und Möglichkeit aber, kann er es an sich nicht, sondern er muß unvergänglich und unentstanden sein. Denn wäre er entstanden, so müßte wiederum etwas zum Grunde liegen, aus dem als einem vorhandenen er entstehen konnte. Dieß aber ist seine eigne Natur; so daß er dann sein würde, ehe er war. Ich nenne nämlich Stoff, das zuerst einem Jeden zum Grunde liegende, aus dem als vorhandenem etwas wird, nicht auf beiläufige Art, und in das beim Vergehen alles zuletzt eingeht. So daß er in der That stets vergeht, ohne zu vergehen.

Ueber den Anfang aber nach der Formbestimmung; ob er Einer oder viele, und welcher oder welche es sind, genauere Bestimmungen zu geben, ist das Geschäft der Urwissenschaft. Es mag also bis dahin liegen bleiben. Ueber die natürlichen aber und die vergänglichen Formbestimmungen werden wir bei dem, was weiterhin gezeigt werden soll, sprechen. – Daß nun also Anfänge sind, und welche[25] und wie viele, möge solchergestalt uns für bestimmt gelten. Jetzt wollen wir fortfahren, indem wir mit einem neuen Anfang von vorn beginnen.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 24-26.
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