Zweites Capitel

[30] Nachdem bestimmt worden, welche Bedeutungen hat die Natur, ist hierauf zu untersuchen, wodurch sich der Mathematiker von dem Naturforscher unterscheidet. Denn Ebenen und erfüllte Räume haben die natürlichen Körper, und Größen und Puncte, welcher Gegenstand der Betrachtung des Mathematikers sind. Ferner, ob die Sternkunde etwas anderes ist, oder Theil der Naturwissenschaft. Daß der Naturforscher nur, was Sonne oder Mond ist, zu wissen habe, von dem aber, was ihnen an sich zukommt, nichts, wäre auffallend. Da zumal man sieht, daß, die von der Natur handeln, auch über die geometrische Gestalt von Mond und Sonne handeln, und auch ob kugelförmig die Erde und die Welt, oder nicht. Mit diesen nun beschäftigt sich auch der Mathematiker, doch nicht wiefern es natürlicher Körper Begrenzungen sind; noch betrachtet er das Unselbstständige, wiefern es solchen Körpern anhängt. Darum trennt er es auch ab; denn trennbar ist es für den Gedanken von der Bewegung, und es ist gleichgültig und es entsteht kein Nachteil oder Irrthum daraus, wenn man es trennt. Unbemerkt thun dieß auch, die von den Ideen sprechen; sie trennen das Naturwissenschaftliche ab, was doch weniger trennbar ist als das Mathematische. Dieß würde sich zeigen, wenn man versuchen wollte, beides in genaue Bestimmungen zu fassen, die natürlichen Körper und das ihnen Anhängende. Das Ungerade nämlich bekommt man dann und das Gerade; und das Gerade und das Krumme. Ferner die Zahl und die Linie und die Figur rein von Bewegung. Fleisch aber und Knochen und Mensch nicht mehr. Denn dieß alles wird in Bezug auf die Natur gesagt, wie lahm vom Beine; nicht trennbar, wie der Begriff des Krummen. Es zeigen dieß auch die der Naturwissenschaft näher stehenden unter den mathematischen Lehren, wie die[30] Sehlehre, die Tonlehre, und die Sternkunde. Denn in umgekehrtem Verhältnis auf gewisse Weise stehen sie zur Meßkunde. Die Meßkunde nämlich stellt über die Linie in der Natur ihre Betrachtungen an, aber nicht wiefern sie der Natur angehört; die Sehkunde hingegen betrachtet die mathematische Linie, aber nicht wiefern sie mathematisch, sondern natürlich ist.

Weil nun die Natur zwiefach ist, die Formbestimmung und der Stoff, so müssen wir, wie wenn wir den Begriff der Lahmheit untersuchten, also in dieser Betrachtung zu Werke gehen: als handle es sich von solchem, was weder ohne Stoff, noch nach dem Stoffe allein das ist, was es ist. Denn auch hierüber hört man mehrfach zweifeln, von welchem von den beiden, was Natur heißt, der Naturforscher handeln soll, oder ob von dem, was aus beiden zugleich ist; oder wenn von dem, was aus beiden zugleich ist, auch von jedem von beiden. Hat also dieselbe, oder hat eine andere Wissenschaft, die eine und die andere von beiden zu erforschen? – Blickt man auf die Alten, so könnte es scheinen, als sei die Naturkunde Wissenschaft von dem Stoffe. Denn nur einem kleinen Theile nach berührten Empedokles und Demokrit die Formbestimmung und das Was des Einzelnen. Wenn aber die Kunst die Natur nachahmt, und die nämliche Wissenschaft zu erkennen hat sowohl die Formbestimmung als den Stoff bis auf einen gewissen Punct (so z.B. der Arzt die Gesundheit, und Galle und Schleim, in denen die Gesundheit ihren Sitz hat; gleicherweise auch der Baumeister, sowohl die wesentliche Form des Hauses, als den Stoff, d.h. Ziegel und Holze, und eben so auch bei dem Uebrigen): so möchte wohl auch die Naturwissenschaft beide Naturen zu erforschen haben. Ferner auch der Zweck und das Endziel gehört derselben, und was durch diesen Zweck bewirkt wird. Denn die Natur ist Endziel und Zweck. Was nämlich eine stetige Bewegung hat und ein Ende[31] dieser Bewegung, dem ist dieses das Letzte und der Zweck. Weshalb auch der Dichter lächerlicher Weise sich verleiten ließ zu sagen:


Es hat sein Ende, wegen dessen es entstand.


Denn es soll nicht jedes Letzte Endziel sein, sondern das Beste, da ja auch die Künste den Stoff bilden, die einen schlechthin, die andern aber zum nützlichen. Und wir bedienen uns aller vorhandenen Dinge, als wären sie unserwegen da. Denn gewissermaßen sind auch wir das Endziel; denn in zwiefachem Sinne spricht man von dem Zwecke, wie in den Büchern über Wissenschaft gesagt worden. Zwei nun sind die den Stoff beherrschenden und erkennenden Künste: die benutzende und die der Bearbeitung vorstehende. Und man sieht nun, warum auch die benutzende gewissermaßen der Bearbeitung vorsteht. Sie besitzt aber zugleich auch die Erkenntniß der Formbestimmung, indem sie der Bearbeitung vorsteht, während die andere vorzugweise den Stoff bearbeitet. Der Steuermann nämlich erkennt die Form des Steuerruders nach ihrem Wesen und ihrer Nothwendigkeit, und verlangt eine solche. Ein anderer aber muß untersuchen, welches Holz und welche Bewegungen dazu erforderlich sind. – In dem nun, was zu Kunst gehört, bilden wir den Stoff dem Zwecke des Werkes gemäß, in dem Gebiete der Natur aber ist er bereits als ein so gebildeter vorhanden. – Uebrigens ist Stoff ein Verhältnißbegriff; denn eine andere Formbestimmung fordert andern Stoff. – Bis wie weit nun muß der Naturforscher die Formbestimmung und das Was kennen? Etwa, wie der Arzt den Nerven, oder der Erzarbeiter das Erz, bis zu einem gewissen Grade? Denn alles hat sein Ziel. Vielleicht bis zu dem, was seiner Formbestimmung nach zwar selbstständig aufgefaßt werden kann, aber doch im Stoffe ist. So der Mensch insofern er den Menschen zeugt, und die Sonne. Wie sich aber[32] das Selbstständige als solches verhält, und was es ist, ist das Geschäft der Urwissenschaft, zu bestimmen.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 30-33.
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