Erstes Capitel

[51] Da die Natur ist Ursprung von Bewegung und Veränderung, unsere Betrachtung aber die Natur zum Gegenstande hat, so darf nicht verborgen bleiben, was Bewegung ist. Denn kennt man sie nicht, so kennt man nothwendig auch die Natur nicht. Haben wir die Bewegung abgehandelt, so müssen wir versuchen, auf dieselbe Weise fortzufahren über das der Reihe nach folgende. Es scheint aber die Bewegung zu gehören zu dem Stetigen. In diesem aber zeigt sich zunächst das Unbegrenzte. Darum wenn man das Stetige bestimmen will, begegnet es einem häufig zu gebrauchen den Begriff des Unbegrenzten, als sei das ins Unbegrenzte theilbare ein Stetiges. Hieran reiht sich, daß ohne Raum und Leeres und Zeit, keine Bewegung ist. Es erhellt also, daß deswegen, und weil dieses von Allem gilt und ein durchaus Allgemeines ist, wir jedes Einzelne darunter uns vorlegen und untersuchen müssen. Eine spätere nämlich ist die Betrachtung des Besonderen, als die des Gemeinschaftlichen. Zuerst nun, wie wir sagten, von der Bewegung. – Es giebt ein Sein nicht nur als Wirklichkeit, sondern auch als Möglichkeit und Wirklichkeit. Dieses ist entweder ein Etwas, oder eine Größe, oder eine Beschaffenheit, oder eine der übrigen Grundformen des Seins. In der Form des Verhältnisses nun ist von Ueberwiegen und Zurückbleiben die Rede,[51] und von Thätigem und Leidendem, und überhaupt von Bewegendem und Bewegtem. Denn das, was bewegt, ist ein solches in Bezug auf das, was bewegt wird. Und was bewegt wird, wird bewegt von dem Bewegenden. Es giebt aber keine Bewegung außerhalb der Dinge. Denn jede Veränderung betrifft entweder das Wesen, oder die Größe, oder die Beschaffenheit, oder den Ort. Ein Gemeinschaftliches über diesen ist keines zu finden, wie wir sagten, welches weder Etwas, noch Größe, noch Beschaffenheit, noch eine von den übrigen Grundformen wäre. Also wäre auch keine Bewegung noch Veränderung von etwas außer dem Genannten, da es ja nichts giebt außer das Genannte. Jedes aber ist auf doppelte Weise vorhanden in Allem; z.B. das Etwas, theils als Form, theils als Verneinung. So auch nach der Beschaffenheit, ein Theil weiß, der andere schwarz; nach Größe, ein Theil vollständig, der andere unvollständig. Gleicherweise nach der Ortveränderung, ein Theil oben, der andere unten, oder ein Theil leicht, der andere schwer. Bewegung und Veränderung haben sonach so viel Arten, wie das Seiende. – Indem nun aber wiederum innerhalb jeder Gattung das Seiende in das der Wirklichkeit nach und das der Möglichkeit nach zerfällt: so ist die Wirklichkeit des der Möglichkeit nach Seienden als solchen Bewegung: z.B. des Umbildsamen als Umbildsamen, die Umbildung; der Vermehrbaren und seines Gegentheils, des Verminderbaren (denn es giebt keinen gemeinschaftlichen Namen für beides) Zunahme und Abnahme; des zu Entstehenden und zu Vergehenden, Entstehung und Untergang; des räumlich Beweglichen, Ortveränderung. Daß aber dieses die Bewegung ist, erhellt hieraus. Wenn das Bauliche, wiefern wir es ein solches nennen, der Wirklichkeit nach ist, so wird es gebaut: und es ist dieß Bauen. Auf gleiche Weise auch Lernen, und Heilen, uns Wälzen, und Springen, und Erweichen, und Altern. – Da ferner[52] bisweilen Dasselbe zugleich der Möglichkeit und der Wirklichkeit nach ist, nicht zugleich aber, oder nicht in derselben Hinsicht, sondern z.B. warm der Möglichkeit, kalt der Wirklichkeit nach; so wird Vieles wirken und leiden von einander gegenseitig. Denn Alles muß zugleich zum Wirken und zum Leiden geeignet sein. So ist denn auch das auf natürliche Art Bewegende ein Bewegliches. Denn alles solche bewegt, indem es bewegt wird, zugleich selbst. Es meinen nun Einige, daß alles das Bewegende bewegt wird. Indeß hierüber wird aus Anderem sich ergeben, wie es sich verhält. Es giebt nämlich auch ein unbewegtes Bewegende.

Die Wirklichkeit also des der Möglichkeit nach Seienden, wenn ein der Wirklichkeit nach Seiendes wirkt, nicht wiefern es ein solches, sondern wiefern es ein Bewegliches ist, ist Bewegung. Das Wiefern aber meine ich so. Es ist das Erz der Möglichkeit nach eine Bildsäule. Dennoch ist nicht die Wirklichkeit des Erzes, wiefern es Erz ist, Bewegung. Nicht Dasselbe nämlich ist, Erz zu sein, und durch irgend eine Kraft beweglich. Denn wäre es Dasselbe schlechthin und nach dem Begriffe, so wäre ja die Wirklichkeit des Erzes als Erzes Bewegung. Es ist aber nicht Dasselbe, wie gesagt. Dieß wird klar bei den Gegensätzen. Denn gesund und krank sein können ist verschieden. Sonst wäre krank sein und gesund sein das Nämliche; eben so das der Gesundheit und der Krankheit zum Grunde liegende, sei es Feuchtigkeit, sei es Blut, Eines und dasselbe. Weil es aber nicht Dasselbe ist, wie auch nicht Farbe Dasselbe und Sichtbares, so erhellt, daß die Wirklichkeit des Möglichen als Möglichen Bewegung ist. Daß sie nun dieß ist, und daß dann Bewegung statt findet, wenn diese Wirklichkeit eintritt, und weder früher noch später, ist klar. Es kann nämlich jedes Ding bald wirken, bald nicht. Z.B. das Bauliche als solches. Hier ist die Wirksamkeit des Baulichen als[53] solchen, Bauen. Denn entweder dieß ist das Bauen: die Wirksamkeit des Baulichen, oder das Gebäude. Allein sobald es ein Gebäude giebt, giebt es kein Bauliches mehr. Gebaut aber wird das Bauliche. Nothwendig also ist das Bauen, die Wirksamkeit. Das Bauen aber ist eine Bewegung. Ganz dieselbe Darlegung wird auch auf die andern Bewegungen passen.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 51-54.
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