Viertes Capitel

[58] Da die Wissenschaft von der Natur sich beschäftigt mit Größen und Bewegung und Zeit, deren jedes nothwendig entweder unbegrenzt oder begrenzt ist, (wenn auch nicht eben alles entweder unbegrenzt oder begrenzt ist; z.B. Zustand, oder Punct, denn dergleichen braucht vielleicht zu keinem von beiden zu gehören); so möchte es wohl obliegen dem, der von der Natur handelt, Betrachtungen anzustellen über das Unbegrenzte, ob es ist oder nicht, und wenn es ist, was es ist. Es zeigt sich, daß dieser Wissenschaft angehörig die Betrachtung desselben ist, daraus, daß Alle, die auf eine der Rede werthe Weise diese Theile der Wissenschaft berührt zu haben scheinen, von dem Unbegrenzten gehandelt haben. Und Alle setzen es als einen Ursprung des Seienden. Die einen, wie die Phythagoreer und Platon, an und für sich, nicht als anhängend irgend einem andern, sondern als sei es selbst im Wesen das Unbegrenzte. Nur die Phythagoreer unter dem Empfindbaren; denn sie lassen nicht selbstständig sei die Zahl; es sei aber, was außerhalb des Himmels, das Unbegrenzte. Platon aber läßt außerhalb keinen Körper zu, noch die Ideen, indem diese nirgends seien; das Unbegrenzte jedoch sei sowohl in dem Sinnlichen als in jenen. Und jene lassen das Unbegrenzte das Gerade sein. Indem nämlich dieses in die Mitte genommen und von dem Ungeraden begrenzt wird, ertheilt es den Dingen die Unendlichkeit. Es zeige sich dieß an dem, was sich begebe mit den Zahlen; daß nämlich, wenn man die ungeraden Zahlen der Reihe nach zu der Eins hinzusetzt, man eine formelle Einheit (die Reihe der Quadrate) bekommt, was[58] außerdem nicht der Fall ist. Platon aber nimmt zwei Unbegrenzte an; das Große und das Kleine. – Die Naturforscher hingegen alle legen stets eine andere Wesenheit von den sogenannten Elementen dem Unbegrenzten zum Grunde, z.B. Wasser oder Luft oder das Mittlere zwischen diesen. Von denen aber, die begrenzte Elemente annehmen, nimmt keiner zugleich unbegrenzte an. Die aber unbegrenzte Elemente annehmen, wie Anaxagoras und Demokrit, der eine nach der Gleichvertheilung, der andere nach der Allbesaamung der Gestalten, behaupten, daß durch Berührung stetig das Unbegrenzte sei. Und jener sagt, daß jedweder Theil auf gleiche Weise eine Mischung sei wie das Ganze, weil man Jedwedes aus Jedwedem werden sieht. Hieraus nämlich scheint auch jene Behauptung zu stammen, daß zusammen einst alle Dinge waren, z.B. dieses Fleisch und dieser Knochen, und so jedwedes. Und also Alles, und zwar auch zugleich der Zeit nach. Denn ein Anfang der Scheidung ist nicht nur in jedem Einzelnen, sondern auch für Alles. Da nämlich das, was entsteht, aus einem so beschaffenen Körper entsteht, Alles aber seine Entstehung hat, wenn auch nicht zugleich, so muß es auch einen Anfang der Entstehung geben. Dieser aber ist Einer, den jener Gedanken nennt. Der Gedanke aber beginnt von irgend einem Anfang aus durch sein Denken zu wirken. Es mußte demnach einst Alles zumal sein und bewegt zu werden anfangen. – Demokrit hingegen behauptet, daß bei dem, was das Erste ist, keine Entstehung des Einen aus dem Andern statt finde. Indeß ist der gemeinschaftliche Körper selbst, Ursprung von Allem, indem er an Größe nach seinen Theilen, und an Gestalt sich unterscheidet.

Daß nun der Naturwissenschaft angehört diese Betrachtung, erhellt hieraus. Mit Grund aber setzen es Alle auch als einen Anfang. Weder umsonst nämlich darf es dasein, noch eine andere Bedeutung haben, als nur die[59] des Anfangs. Denn alles ist entweder Anfang oder hat einen Anfang. Das Unbegrenzte aber hat keinen Anfang, denn sonst hätte es eine Grenze. Auch ist es unentstanden und unvergänglich, indem es Anfang ist. Denn was entstanden ist, muß ein Endziel nehmen, und ein Ende hat aller Untergang. Darum scheint, wie wir sagen, nicht dieses einen Anfang, sondern das Uebrige diese zum Anfang zu haben, und Alles von ihm umgeben und geleitet zu werden, wie diejenigen sagen, die nicht außer dem Unbegrenzten noch andere Anfänge annehmen, wie den Gedanken oder die Freundschaft; ja dieses gilt für das Göttliche, weil unsterblich und unvergänglich, wie Anaximander sagt und die Meisten der Naturforscher. – Von dem Sein aber des Unbegrenzten möchte die Ueberzeugung vornehmlich aus fünf Umständen für den Betrachter hervorgehen. Erstens aus der Zeit, denn diese ist unbegrenzt; dann aus der Theilung der Größen, denn es bedienen sich auch die Mathematiker des Unbegrenzten. Ferner daß nur so nie ausgeht Entstehung und Untergang, wenn es ein Unbegrenztes giebt, woher genommen wird das Werdende. Ferner, daß das Begrenzte stets an etwas grenzt; so daß es nothwendig keine äußerste Grenze giebt, wenn stets grenzen muß Eines an das Andere. Am meisten aber und hauptsächlich, was die gemeinschaftliche Verlegenheit erregt in Allen. Weil nämlich das Denken kein Ende findet, darum gilt die Zahl für unbegrenzt, und die mathematischen Größen, und was außerhalb des Himmels. Ist aber unbegrenzt dieses Außerhalb, so meint man einen unbegrenzten Körper zu haben, und unbegrenzte Welten. Denn warum mehr Leeres da als dort? Ist irgendwo ein Erfülltes, so muß es ja doch allenthalben sein. Und ist einmal ein Leeres und ein Raum unbegrenzt, so muß es auch einen unbegrenzten Körper geben. Denn das Können ist von dem Sein nicht unterschieden in dem Einigen. – Es hat aber ihre Bedenklichkeiten die Betrachtung des Unbegrenzten. Denn[60] sowohl wenn man setzt, es sei nicht, folgt Vieles als unmöglich, als auch wenn man setzt, es sei. Ferner fragt sich, auf welche Weise es ist, ob als Wesen, oder als an und für sich Unhängendes irgend einer Wesenheit, oder auf keine von beiden Weisen, aber so, daß es nichts desto weniger ein Unbegrenztes gebe, oder Unbegrenzte an Menge. Vornehmlich hat der Naturforscher zu betrachten, ob es eine empfindbare Größe als unbegrenzte giebt.

Zuerst nun ist zu bestimmen, wie viel Bedeutungen hat das Unbegrenzte. Auf Eine Seite nun heißt es: was man zwar nicht durchgehen kann, weil es nicht geschaffen ist zum Durchgehen; gleichwie die Stimme unsichtbar. Auf andere Art aber: wodurch der Durchgang nicht vollendet werden kann, oder kaum; oder was zwar haben sollte aber doch nicht hat die Fähigkeit durchgangen zu werden, oder eine Grenze. Ferner ist alles Unbegrenzte dieß entweder nach Zusatz, oder Theilung, oder beides.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 58-61.
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