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[110] Die kleinste Zahl nun ist schlechthin zwar die Zwei. Eine bestimmte Zahl aber ist in einer Hinsicht dieß, in der andern aber ist sie es nicht. Z.B. von der Linie die kleinste Zahl, ist der Menge nach zwar die Zwei oder die Eins; der Größe nach aber ist sie nicht die kleinste; denn stets getheilt wird jede Linie. Also gleicherweise auch die Zeit: die kleinste nämlich ist der Zahl nach die Eine oder die Zwei; der Größe nach aber sind sie es nicht. – Man sieht aber auch, weshalb sie schnell zwar und langsam nicht heißt, wohl aber viel und wenig, und lang und kurz. Wiefern nämlich sie stetig ist, lang und kurz, wiefern aber Zahl, viel und wenig. Schnell aber und langsam ist sie nicht; denn auch die Zahlen, mit denen wir zählen, sind schnell oder langsam nie. Und die nämlich ist überall zugleich, früher und später aber ist nicht die nämliche; weil auch die Veränderung, die gegenwärtige Eine, die vergangene und zukünftige aber, eine verschiedene ist. Die Zeit aber ist eine Zahl, nicht womit wir zählen, sondern welche gezählt wird. Diese aber ergiebt sich als nach dem Früher und Später stets verschieden.[110] Die Jetzt nämlich sind verschieden. Es ist aber die Zahl eine und dieselbe, die von den hundert Pferden und von den hundert Menschen; wovon aber sie Zahl ist, verschieden: die Pferde von den Menschen. – Ferner, gleichwie eine Bewegung eine und dieselbe zu wiederholten malen sein kann, so kann es auch eine Zeit: z.B. Jahr, oder Frühling, oder Herbst. – Nicht allein aber messen wir die Bewegung mit der Zeit, sondern auch mit der Bewegung die Zeit; weil sie durch einander sich bestimmen. Die Zeit nämlich bestimmt die Bewegung, indem sie ihre Zahl ist; die Bewegung aber die Zeit. Und wir sagen viel oder wenig Zeit, indem wir sie mit der Bewegung messen, gleichwie auch mit dem Zählbaren die Zahl, z.B. mit dem Einen Pferde, die Zahl der Pferde. Mittelst der Zahl nämlich zwar erkennen wir die Menge der Pferde; umgekehrt aber mittelst des Einen Pferdes, die Zahl selbst der Pferde. Eben so auch bei der Zeit und der Bewegung: durch die Zeit nämlich die Bewegung, durch die Bewegung aber messen wir die Zeit. Und dieß geschieht mit gutem Grunde. Denn es entspricht der räumlichen Größe die Bewegung, der Bewegung aber die Zeit, darin daß sie sowohl Größen, als stetig, als auch untheilbar sind. Weil nämlich die stetige Größe eine solche ist, eigner dieß auch der Bewegung; weil aber der Bewegung, der Zeit. Und wir messen sowohl die Größe mit der Bewegung, als auch die Bewegung mit der Größe. Lang nämlich nennen wir den Weg, wenn die Reise lang ist, und diese lang, wenn der Weg lang; und die Zeit, wenn die Bewegung, und die Bewegung, wenn die Zeit.
Da nun die Zeit Maß der Bewegung ist und des Bewegens, diese aber dergestalt die Bewegung mißt, daß sie bestimmt eine Bewegung, welche dienen soll, die ganze auszumessen; gleichwie auch die Länge die Elle mißt, indem sie bestimmt ist als eine Größe, wonach ausgemessen werden soll die ganze: so ist auch für die Bewegung[111] das Sein in der Zeit, daß gemessen wird durch die Zeit sie selbst und ihr Sein. Denn zugleich die Bewegung und das Sein der Bewegung mißt jene. Und dieß ist für sie das in der Zeit sein, daß gemessen wird ihr Sein. – Es erhellt aber, daß auch für das Andere dieß ist das in der Zeit Sein, daß gemessen wird sein Sein durch die Zeit. – Das in der Zeit sein nämlich ist von zweien das eine: entweder zu sein dann, wann die Zeit ist, oder, so zu sein, wie von Einigem sagen, daß es in der Zahl ist. Dieß aber bedeutet entweder ein Theil der Zahl und Zustand und überhaupt, daß es von der Zahl etwas ist, oder daß es giebt von ihm eine Zahl. Da aber Zahl ist die Zeit, so sind das Jetzt und das Vor und was sonst dergleichen, so in der Zeit, wie in der Zahl die Eins und das Ungerade und das Gerade. Denn diese sind etwas von der Zahl, jene aber etwas von der Zeit. Die Dinge aber sind wie in der Zahl, in der Zeit etwas. Ist nun dieß, so werden sie umfaßt von der Zahl, gleichwie auch, was im Raume ist, von dem Raume. – Ersichtlich aber ist auch, daß nicht ist das in der Zeit sein, zu sein, wann die Zeit ist: gleichwie auch nicht das in Bewegung sein, noch das im Raume sein, wann die Bewegung und der Raum ist. Denn soll das: in etwas, sich so verhalten, so werden alle Dinge in allem sein, und der Himmel in einem Hirsenkorn; denn wann das Hirsenkorn ist, ist auch der Himmel. Allein dieses trifft sich zufällig, jenes aber muß zusammentreffen; und mit dem was in der Zeit ist, eine Zeit sein, wann jenes ist, und mit dem, was in Bewegung ist, eben dann eine Bewegung sein. Da aber ist wie in der Zahl das in der Zeit, so wird sich denken lassen eine größere Zeit als alles was in der Zeit ist. Darum muß alles was in der Zeit ist, umfaßt werden von der Zeit, so wie auch anderes, was im etwas ist; z.B. das im Raume von dem Raume; und auch leiden etwas von[112] der Zeit, so wie wir auch zu sagen pflegen, daß aufzehrt die Zeit, und daß altert Alles durch die Zeit, und daß man vergißt durch die Zeit; nicht aber, daß man lernt, noch jung wird, noch schön. Von dem Vergehen nämlich ist Ursache an sich vielmehr die Zeit: denn sie ist Zahl der Bewegung, die Bewegung aber versetzt das Vorhandene. Also ist ersichtlich, daß das stets Seiende als stets Seiendes nicht ist in der Zeit. Denn nicht umfaßt wird es von der Zeit, noch gemessen sein Sein von der Zeit. Es zeigt sich dieß daran, daß es nichts erfährt von der Zeit, indem es nicht ist in der Zeit. – Da aber die Zeit Maß der Bewegung, so ist sie auch der Ruhe Maß [nebenbei]. Denn alle Ruhe ist in der Zeit. Nicht nämlich wie, was in der Bewegung ist, nothwendig sich bewegen muß, so auch, was in der Zeit. Denn nicht Bewegung ist die Zeit, sondern Zahl der Bewegung; in der Zahl aber der Bewegung kann sein auch das Ruhende. – Denn nicht alles Unbewegte ruht, sondern nur das der Bewegung Entbehrende aber sich zu bewegen Bestimmte; wie gesagt in dem Vorhergehenden. Zu sein aber in der Zahl ist, daß irgend eine Zahl hat das Ding, und daß gemessen wird sein Sein durch die Zahl in der es ist, also wenn in der Zeit, von der Zeit. Es wird aber messen die Zeit das Bewegte und das Ruhende, wiefern das eine Bewegtes, das andere Ruhendes ist: denn seine Bewegung soll sie messen und seine Ruhe, nach ihrer Größe. Also wird das Bewegte nicht schlechthin meßbar sein durch die Zeit, wiefern es ein Größe ist, sondern wiefern seine Bewegung eine Größe ist. So daß, was weder sich bewegt noch ruht, nicht ist in der Zeit. Denn in der Zeit sein, ist gemessen werden durch die Zeit; die Zeit aber ist der Bewegung und Ruhe Maß. – Man sieht also, daß auch das Nichtseiende alles sein kann in der Zeit, namentlich alles dasjenige nicht, was nicht anders sich verhalten kann; z.B.[113] daß der Durchmesser mit der Seite gleiches Maß habe. Denn überhaupt wenn Maß ist für die Bewegung die Zeit an sich selbst, für das Andere aber nebenbei: so erhellt, daß, wessen Sein sie mißt, dieses alles haben wird sein Sein in dem Ruhen oder Bewegtsein. Was also dem Vergehen und Entstehen unterworfen, und überhaupt was bald ist, bald nicht ist, muß in der Zeit sein. Denn es ist eine größere Zeit, welche übersteigt sein Sein und diejenige, die da mißt sein Wesen. Von dem aber, was ist, so viel davon umfaßt die Zeit, ist einiges gewesen, wie z.B. Homer gewesen ist; anderes wird sein, wie irgend etwas Zukünftiges; je nachdem nach einer von beiden Seiten die Zeit es umfaßt: und wenn nach beiden, so war es sowohl als wird es sein. Was sie aber umfaßt nach keiner Seite, war weder, noch ist es, noch wird es sein. Es giebt aber ein solches Nichtseiende, dessen Entgegengesetztes stets ist, z.B. daß außer bestimmtem Verhältniß ist der Durchmesser zur Seite, ist stets so, und nicht kann dieß sein in der Zeit: also auch nicht, daß er in bestimmten Verhältnisse sei. Darum ist dieß stets nicht, weil entgegengesetzt dem was stets ist. Wessen Gegentheil aber nicht stets ist, dieß kann sowohl sein als nicht, und es giebt ein Entstehen und Vergehen davon.
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