Sechstes Capitel

[138] Da aber der Bewegung nicht nur eine Bewegung für entgegengesetzt gilt, sondern auch eine Ruhe: so ist dieß näher zu bestimmen. Schlechthin zwar Gegentheil nämlich ist Bewegung von Bewegung; entgegensteht ihr indessen auch die Ruhe. Sie ist nämlich Verneinung. Gewissermaßen indeß heißt auch die Verneinung im Gegensatze begriffen. Welche nun mit welcher? Etwa mit der räumlichen Bewegung die räumliche Ruhe? Doch dieß ist jetzt nur im Allgemeinen gesagt. Es fragt sich aber, ob dem Stillstand hier die Bewegung von hier oder hieher entgegensteht? Es erhellt nun, daß, da in zwei zum Grunde liegenden die Bewegung ist, der von diesem zu dem Gegentheile der Stillstand in diesem entgegensteht, der aber von dem Gegentheile zu diesem, der in dem Gegentheile. Zugleich aber sind auch einander entgegengesetzt diese Stillstände. Denn sonderbar wäre es, wenn Bewegungen zwar entgegenlaufend sein sollten, die Ruhe aber sich einander nicht entgegenstünde. Es steht aber sich entgegen die Ruhe in den Gegensätzen; z.B. die in der Gesundheit der in der Krankheit, unter den Bewegungen aber der aus Gesundheit zu Krankheit. Der nämlich aus Krankheit zu Gesundheit, wäre widersinnig: denn die Bewegung nach dem Dinge hin, worin etwas steht, ist Ruhe vielmehr, die zufällig zugleich stattfindet mit der Bewegung. Nothwendig aber muß es eines von diesen beiden sein; denn nicht steht die Ruhe in der weißen Farbe entgegen der in der Gesundheit. Was aber keinen Gegensatz hat, für dieses ist der Uebergang aus ihm entgegengesetzt dem in es: Bewegung aber ist es nicht, wie die von etwas das ist[138] der zu etwas das ist. Und Stillstand findet bei diesem nicht statt, sondern nur Unveränderlichkeit. Und wenn als zum Grunde liegend gelten könnte ein Nichtseiendes, so wäre die Unveränderlichkeit in dem Seienden der in dem Nichtseienden entgegengesetzt. Wenn es aber nicht giebt ein Nichtseiendes, so könnte man zweifeln, was zum Gegensatze hat die Unveränderlichkeit in dem Seienden, und ob sie Ruhe ist. Ist sie aber dieß, so ist entweder nicht jede Ruhe einer Bewegung entgegengesetzt, oder die Entstehung und der Untergang sind Bewegungen. Es erhellt sonach, daß man die Ruhe zwar nicht nennen darf, wenn nicht auch dieses Bewegungen sind; etwas ähnliches aber ist sie auch als Unveränderlichkeit. Entgegengesetzt aber entweder Keinem, oder der in dem Nichtseienden, oder dem Untergange. Dieser nämlich ist aus ihr, die Entstehung aber zu ihr.


Man könnte nun die Frage aufwerfen, warum in der räumlichen Veränderung sowohl naturgemäß als wider die Natur Stillstände und Bewegungen stattfinden; in der andern aber nicht, z.B. in der Umbildung eine natürliche und eine widernatürliche. Denn um nichts mehr ist die Genesung als die Erkrankung naturgemäß oder widernatürlich, noch Weißung als Schwärzung. Eben so auch mit Wachsthum und Abnahme. Denn auch diese nicht stehen einander entgegen wie naturgemäße und widernatürliche; noch auch Wachsthum dem Wachsthum. Und mit Entstehen und Vergehen verhält es sich eben so. Denn weder ist das Entstehen zwar naturgemäß, das Vergehen aber naturwidrig (denn das Altern ist der Natur gemäß); noch sehen wir das eine Entstehen zwar der Natur gemäß, das andere aber der Natur zuwider. – Wenn indessen das durch Gewalt der Natur zuwider ist, so wäre Untergang dem Untergange entgegengesetzt, der gewaltsame, als widernatürlich, dem natürlichen. Sollte[139] es nun auch Entstehungen geben, die einen gewaltsam und nicht vom Schicksale verhängt, denen entgegenstünden die naturgemäßen? Und Wachsthum ein gewaltsames und Abnahme? z.B. das Wachsthum derer, die schnell durch Weichlichkeit mannbar werden; und das Getreide, das schnell zur Reife kommt und keine tiefen Wurzeln schlägt? Wie aber mit der Umbildung? Vielleicht eben so. Denn es ließe sich denken, daß einige gewaltsam, andere natürlich wäre; wie z.B. welche freigelassen werden an Tagen, da kein Gericht stattfindet, und an solchen, an denen es stattfindet: diese hätten, jene wider die Natur eine Umbildung ihres Schicksals erfahren, diese gemäß der Natur. Es werden auch entgegengesetzt sein die Untergänge sich unter einander; nicht der Entstehung. Und was hindert? Denn dieß läßt sich auf gewisse Weise denken: z.B. wenn der eine angenehm, der andere aber schmerzlich wäre. Also stünde nicht schlechthin Untergang dem Untergange entgegen, sondern wiefern der eine davon so, der andere anders beschaffen ist. Im Allgemeinen nun stehen sich entgegen die Arten der Bewegung und Ruhe auf die angegebene Weise: z.B. die nach oben der nach unten: räumliche Gegensätze nämlich sind dieß. Es erfährt aber die Bewegung nach oben zwar von Natur das Feuer, die aber nach unten die Erde; und entgegengesetzt sind ihre Bewegungen. Das Feuer aber geht nach oben zwar von Natur, nach unten aber wider die Natur, und entgegengesetzt ist seine natürliche Bewegung der widernatürlichen. Und die Stillstände eben so. Der Stillstand oben nämlich ist der Bewegung von oben nach unten entgegengesetzt; es begegnet aber der Erde jener Stillstand zwar wider die Natur, diese Bewegung aber gemäß der Natur. So daß eine Bewegung einem Stillstande entgegengesetzt ist: die gemäß der Natur, dem wider die Natur desselbigen Dinges. Denn auch die Bewegung desselben ist ja solchergestalt entgegengesetzt: die[140] eine davon wird der Natur gemäß sein, die nach oben oder die nach unten; die andere der Natur zuwider. Es leidet aber einen Zweifel, ob alle Ruhe, die nicht immer ist, eine Entstehung hat, und zwar das sich Stellen. Der Stillstand wider die Natur z.B. der Erde oben hätte demnach ein Entstehen. Indem nämlich sie nach oben bewegt wird durch Gewalt, stellt sie sich. Allein das was sich stellt, scheint stets schneller sich zu bewegen; das durch Gewalt aber im Gegentheil. Etwas also, was nicht ruhend wird, wäre doch ruhend. – Auch scheint das sich Stellen eigentlich davon gesagt zu werden, daß etwas der Natur gemäß an seinen Ort sich bewegt, oder mit diesem zusammenzutreffen. – Es fragt sich aber, ob entgegengesetzt ist der Stillstand an diesem Orte der Bewegung von diesem Orte: denn wenn etwas sich bewegt von etwas, oder etwas verliert, so scheint es noch zu haben das was verloren wird. Also wenn diese Ruhe entgegengesetzt ist der Bewegung von hier zu dem Entgegengesetzten, so werden zugleich da sein die Gegentheile. Oder sollte es nur gewissermaßen ruhen beim Stillstande, überhaupt aber von dem was bewegt wird ein Theil dort sein, der andere da, worein es übergeht? Darum ist auch vielmehr Bewegung der Bewegung entgegengesetzt, als Ruhe. – [Zweifeln könnte man auch wegen des sich Stellens, ob, welche Bewegungen der Natur zuwider sind, diesen eine Ruhe entgegensteht. Wenn nun nicht, so ist dieß sonderbar; denn es bleibt etwas doch mit Gewalt. So würde dann etwas ruhend sein nicht von jeher, ohne doch es zu werden. Aber es erhellt, daß es stattfinden muß, denn wie etwas bewegt wird wider die Natur, so kann auch ruhen etwas wieder die Natur. Weil aber einiges eine Bewegung hat gemäß der Natur und wider die Natur, wie das Feuer gemäß der Natur nach oben, nach unten aber, wider die Natur: so fragt sich, ist diese entgegengesetzt, oder die der Erde? Diese nämlich bewegt[141] sich der Natur gemäß nach unten. Offenbar wohl beide, aber nicht auf gleiche Weise, sondern die eine als der Natur gemäß, die der Natur gemäßen; die aber nach oben beim Feuer der nach unten, als die naturgemäße der naturwidrigen. Eben so auch mit den Arten des Bleibens.] – Ueber Bewegung und Ruhe nun, und wie jede von beiden Eine, und welche entgegengesetzt welchen, ist gesprochen worden.[142]

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 138-143.
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