Siebentes Capitel

[218] Allein wenn wir von etwas anderem beginnen, so werden wir noch mehr darüber ins Klare komme. Es ist nämlich zu untersuchen, ob es sich denken läßt, daß es eine stetige Bewegung gebe, oder nicht; und wenn es sich denken läßt, welche diese ist, und welche die erste unter den Bewegungen. Denn es erhellt, daß, wofern es nothwendig ist, daß stets Bewegung sei, diese aber erste und stetige ist, das zuerst Bewegende diese Bewegung hevorbringt, welche nothwendig eine und dieselbe sein muß, und stetig, und erste. Da aber es drei Bewegungen giebt, die nach der Größe, und die nach dem Zustande, und die nach dem Raume, die wir Ortveränderung nennen; so muß diese die erste sein. Denn unmöglich kann Wachsthum sein, so lange Umbildung nicht vorhanden ist. Das Wachsende nämlich wächst gewissermaßen zwar durch das Gleiche, gewissermaßen aber auch durch das Ungleiche. Das Gegentheil nämlich heißt Nahrung für das Gegentheil. Es wächst aber auch Alles, indem es gleich ward dem Gleichen. Es muß also Umbildung die Veränderung in das Gegentheil sein. Allein wenn eine Umbildung vorgeht, so wird es müssen geben etwas das umbildet und macht aus dem der Möglichkeit nach Warmen das der Wirklichkeit nach Warme. Klar nun ist, daß das Bewegende nicht auf gleiche Weise sich verhält, sondern bald näher, bald ferner von dem was umgebildet wird, ist. Dieß aber kann ohne Ortveränderung nicht statt finden. Wenn also stets Bewegung sein muß, so muß auch räumliche Bewegung sein als erste der Bewegung; und wenn von der räumlichen Bewegung die eine erste, die andere nachfolgende ist, die erste. – Ferner ist aller[218] Zustände Anfang Verdichtung und Verdünnung. Denn Schweres und Leichtes, und Weiches und Hartes, und Warmes und Kaltes, scheinen gewisse Dichtigkeiten und Dünnheiten zu sein. Verdichtung nämlich und Verdünnung sind Zusammensetzung und Scheidung, in Beziehung worauf auch von Entstehung und Untergang der Wesen die Rede ist. Was aber zusammengesetzt und geschieden wird, muß auch dem Raume nach sich verändern. Allein von dem Wachsenden und Abnehmenden verändert sich räumliche die Größe. Ferner wird auch, wenn man es von dieser Seite betrachtet, sich ergeben, daß die räumliche Veränderung die erste ist. Das Erste nämlich möchte, wie anderwärts, so auch der Bewegung mehrerlei bedeuten. So heißt nämlich Ersteres, was, wenn es nicht ist, auch das Andere nicht ist, jenes aber ohne das Andere. Und das der Zeit nach; und das dem Wesen nach. Also weil Bewegung beständig sein muß, beständig aber wäre entweder die stetige, oder die in der Reihe folgende, mehr aber die stetige, und es besser ist, daß sie stetig, als daß sie in der Reihe folgend sei; das Bessere aber wir stets als in der Natur stattfindend annehmen, dafern es möglich ist; es aber möglich ist, daß sie stetig sei (dieß wird späterhin gezeigt werden; jetzt aber möge es vorausgesetzt sein), und diese keine andere sein kann, als räumliche Bewegung: so muß demnach die räumliche Bewegung die erste sein. Denn es ist keine Nothwendigkeit da, weder daß wachse, noch daß umgebildet werde das räumlich Bewegte, noch daß es entstehe oder vergehe. Von diesen Bewegungen aber kann keine stattfinden, wenn nicht die erste da ist, welche das zuerst Bewegende erregt. – Ferner muß sie der Zeit nach die erste sein. Denn das Ewige allein kann diese erfahren. Aber bei jedem einzelnen dem Werden Unterliegenden, muß die räumlich die letzte der Bewegungen sein. Nach dem ersten Entstehen nämlich, Umbildung und Wachstum. Ortveränderung[219] aber ist erst eine Bewegung des Vollendeten. Aber etwas Anderes muß zuvor bewegt sein auf räumliche Art, welches auch der Entstehung Ursache ist dem Entstehenden, da es selbst nicht entsteht; gleichwie das Erzeugende des Erzeugten. Es könnte scheinen, als sei die Entstehung die erste der Bewegungen, darum, weil entstehen muß das Ding zuerst. Dieß aber verhält sich bei jedem einzelnen Entstehenden so, aber etwas Anderes muß vorher sich bewegen, als das Entstehende, welches ist und nicht selbst entsteht; und wiederum vor diesem ein Anderes. Weil aber die Entstehung nicht erste sein kann (denn dann müßte alles Bewegte vergänglich sein), so erhellt, daß auch keine der darauf folgenden Bewegungen früher ist. Ich nenne aber der Reihe nachfolgend: Wachsthum; sodann Umbildung, und Abnahme, und Untergang. Denn alle sind später als Entstehung: so daß, wenn nicht Entstehung früher ist als räumliche Bewegung, auch keine der andern Veränderungen. Ueberhaupt aber erscheint das Entstehende als unvollkommen, und sich dem Anfang nähernd; und also das der Entstehung nach Spätere, der Natur nach früher zu sein. Zuletzt aber findet Raumbewegung statt bei allem dem Werden Unterworfenen. Darum ist Einiges von dem Lebenden durchaus unbeweglich, aus Mangel des Werkzeugs, z.B. die Pflanzen, und viele Gattungen der Thiere. Bei den vollkommenen aber findet sie statt. Also wenn mehr statt findet Raumbewegung bei demjenigen, was vollkommen die Natur gewonnen hat, so möchte auch diese Bewegung die erste unter den übrigen dem Wesen nach sein. Deswegen, und weil am wenigsten aus seinem Wesen herausgeht das Bewegte unter den Bewegungen in der räumlichen: denn nach dieser allein verändert es nichts an seinem Sein, wie bei der Umbildung die Beschaffenheit, bei Wachsthum und Abnahme die Größe. Vornehmlich aber erhellt, daß das sich selbst Bewegende vorzüglich diese Bewegung hervorbringt, die nach dem Raume. Und[220] wir nennen dieß doch Anfang des Bewegten und Bewegenden, und Erstes dem Bewegten, das sich selbst Bewegende. – Daß nun also unter den Bewegungen die räumliche die erste ist, ergiebt sich aus diesem.


Welche räumliche Bewegung nun die erste sei, ist nunmehr zu zeigen. Zugleich aber wird auch das jetzt und das früher Vorausgesetzte, daß es eine Bewegung geben kann, die stetig und ewig ist, auf demselben Wege sich ergeben. Daß nun von den andern Bewegungen keine stetig zu sein vermag, ist hieraus ersichtlich. Alle nämlich gehen von Gegentheil zu Gegentheil, die Bewegungen und die Veränderungen. So sind z.B. für Entstehung und Untergang das Seiende und Nichtseiende Grenzen; für Umbildung die entgegengesetzten Zustände; für Wachsthum und Abnahme entweder Größe und Kleinheit, oder Vollkommenheit der Größe und Unvollkommenheit. Entgegengesetzt aber sind die in die Gegentheile. Was nun nicht stets diese Bewegung erlitt, vorher aber war, mußte vorher ruhen. Man sieht also, daß ruhen wird in dem Gegentheile das was sich verändert. Gleichergestalt auch bei den Veränderungen. Entgegengesetzt nämlich ist der Untergang und die Entstehung im Allgemeinen der im Allgemeinen, und die im Einzelnen der im Einzelnen. Also wenn es unmöglich ist, daß etwas zugleich die entgegengesetzten Veränderungen erleide, so wird nicht stetig sein die Veränderungen, sondern zwischen ihnen wird eine Zeit sein. Denn nichts kommt darauf an, ob entgegengesetzt oder nicht entgegengesetzt sind die Veränderungen, die im Widerspruche sind; wenn sie nur nicht können zugleich in dem Nämlichen zugegen sein. Dieß nämlich hat für den Zusammenhang keinen Nutzen. Auch nicht ob es nicht nöthig ist, zu ruhen in dem Widerspruche, noch ob die Veränderung der Ruhe entgegengesetzt ist (denn vielleicht ruht nicht, was nicht[221] ist; der Untergang aber geht in das Nichtseiende): sondern wenn nur eine Zeit dazwischen verfließt. So nämlich ist die Veränderung nicht stetig. Denn auch bei dem Vorhergehenden kam es nicht auf den Gegensatz an, sondern auf die Unmöglichkeit, zugleich vorhanden zu sein. Man braucht sich aber nicht irren zu lassen, daß das Nämliche Mehren entgegengesetzt ist z.B. die Bewegung sowohl dem Stillstand, als der Bewegung in das Gegentheil: sondern nur dieß festzuhalten, daß auf gewisse Weise sowohl der Bewegung als der Ruhe entgegensteht die entgegengesetzte Bewegung, wie das Gleiche und das Gemäßigte dem Ueberwiegenden und dem Ueberwogenen, und daß nicht zugleich die entgegengesetzten Bewegungen oder Veränderungen dasein können. Sodann bei der Entstehung und dem Untergange könnte es auch ganz und gar seltsam zu seyn scheinen, wenn das Entstandene sogleich untergehen muß; nicht einige Zeit hindurch bleiben. So daß man hieraus auch auf die übrigen schließen dürfte. Denn es ist natürlich, daß es sich gleichergestalt verhalte bei allen.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 218-222.
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