[625] 54. vyatirekas! tad-bhâva-abhâvitvân na tu; upalabhi-vat
Fortbestehen! denn weil es in seinem Sein nicht das Sein hat, ist es vielmehr nicht an dem; mit demselben Rechte wie die Wahrnehmung.

[625] Es ist »vielmehr nicht an dem«, dass das Selbst nicht über den Leib hinaus fortbestehe; vielmehr muss ein »Fortbestehen« desselben über den Leib hinaus angenommen werden, »weil es in seinem [des Leibes] Sein nicht das Sein hat«. Denn wenn daraus, dass die Qualitäten des Selbstes bestehen, so lange der Leib besteht, gefolgert wird, dass sie Qualitäten des Leibes seien, so muss doch auch daraus, dass jene nicht mehr bestehen, während der Leib noch besteht, geschlossen werden, dass sie nicht Qualitäten des Leibes sind, indem sie von den Qualitäten des Leibes wesensverschieden sind. Denn was Qualität des Leibes ist, wie die Gestalt u.s.w., das muss so lange bestehen wie der Leib. Hingegen bestehen Odem, Bewegung u.s.w. nicht mehr, wiewohl noch der Leib besteht, nämlich im Zustande des Todes. Dazu kommt, dass die Qualitäten des Leibes, wie Gestalt u.s.w., auch an andern wahrgenommen werden, während es mit den Qualitäten des Selbstes, mit Geist, Erinnerung u.s.w., nicht so ist [sie gehören nicht mit zur objektiven Realität].

Ferner: daraus, dass der Leib im lebenden Zustande besteht, kann man allerdings beweisen, dass jene [die Qualitäten des Selbstes] bestehen, nicht aber daraus, dass er nicht besteht, dass jene nicht bestehen; denn es bleibt die Möglichkeit offen, dass, wenn auch dieser Leib einmal dahin fällt, die Qualitäten des Selbstes durch Eingehen in einen andern Leib fortbestehen; | die Meinung der Gegner verbietet sich somit auch dadurch, dass sie eine blosse Mutmassung (saṃçaya) ist.

Weiter muss man den Gegner fragen, wie er sich denn das Geistige denkt, wenn er seine Entstehung aus den Elementen annimmt; denn ausser den vier Elementen nehmen ja die Materialisten keine Wesenheit an. Wenn er sagt: das Geistige ist das Wahrnehmen der Elemente und ihrer Produkte, so sind also jene seine Objekte, und folglich kann es nicht eine Qualität derselben sein, indem eine Bethätigung gegen das eigene Selbst ein Widerspruch ist. Denn das Feuer, obgleich es heiss ist, brennt doch nicht sich selbst, und der Tänzer, so geschickt er auch ist, kann doch nicht auf seine eigene Schulter steigen. Soll das Geistige eine Qualität der Elemente und ihrer Produkte sein, so können die Elemente und ihre Produkte nicht Objekt desselben werden. Denn z.B. die Gestalten können nicht die eigene Gestalt oder eine andere Gestalt[626] zum Objekte haben, während hingegen das Geistige die Elemente und ihre Produkte, die ausserhalb sowohl als die an dem eigenen Selbste befindlichen, zu Objekten hat. »Mit demselben Rechte« also, mit welchem man die Realität der alle Elemente und ihre Produkte zum Objekt habenden [und folglich nicht zu ihnen gehörigen] »Wahrnehmung« annimmt, muss man auch | das Fortbestehen über jene hinaus annehmen. Denn die Eigennatur der Wahrnehmung ist eben das, was wir die Seele nennen. So folgt die Unabhängigkeit der Seele vom Leibe und ihre Ewigkeit aus der besonderartigen Natur der Wahrnehmung. Und auch die Erinnerung u.s.w. wird nur dadurch möglich, dass, nachdem man eine Sache wahrgenommen hat, man sie auch dann noch, nachdem sie bereits in einen andern Zustand übergegangen ist, vermöge des [trotz ihres Verganges fortbestehenden] Wahrnehmerseins wieder erkennt.

Wenn aber gesagt wurde, dass die Wahrnehmung eine Qualität des Leibes sei, weil sie so lange bestehe, wie der Leib besteht, so ist darauf in der schon angezeigten Weise zu antworten: die Wahrnehmung besteht auch, so lange die Hülfsmittel derselben, z.B. die Lampe, bestehen, und sie bestehen nicht mehr, wenn jene nicht mehr bestehen; aber daraus darf man nicht schliessen, dass die Wahrnehmung eine blosse Qualität der Lampe sei; und ebenso braucht nicht darum, weil die Wahrnehmung besteht, so lange der Leib besteht, und nicht mehr besteht, wenn er nicht mehr besteht, die Wahrnehmung eine Qualität des Leibes zu sein; denn die Möglichkeit ist da, dass der Leib dabei, ebenso wie die Lampe, als ein blosses Hülfsmittel dient. Übrigens ist auch die Mithülfe des Leibes bei der Wahrnehmung gar nicht unbedingt erforderlich; denn auch während der Leib unbeweglich im Schlafe liegt, haben wir mancherlei Wahrnehmungen. – Folglich ist die Existenz der über den Leib hinaus fortbestehenden Seele unbestreitbar.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 625-627.
Lizenz:
Kategorien: