[561] 9. vyâpteç ca samañjasam
und wegen der Durchdringung ist es zusammenstimmend.

In den Worten: »Om! diesen Laut verehre man als den Udgîtha« (Chând. 1, 1, 1), werden die Worte »Laut« und »Udgîtha« als Subjekt und Prädikat miteinander verbunden. Dies liesse sich aus einer Übertragung, Absprechung, Einheit oder Bestimmung erklären, und es fragt sich, welche Annahme hier die richtige ist. – Eine Übertragung (adhyâsa) nimmt man da an, wo von zwei Dingen der Begriff des einen auf den Begriff des andern, ohne dass dieser aufgehoben würde, übertragen wird; hierbei bleibt von dem Dinge, auf welches der andere Begriff übertragen wird, der eigene Begriff bestehen, wenn schon ein anderer Begriff darauf übertragen wird (lies: adhyastetarabuddhâv api); ähnlich wie, wenn der Begriff des Brahman auf den Namen übertragen wird (vgl. Chând. 7, 1, 5), gleichwohl der Begriff Name bestehen bleibt und durch den Begriff Brahman nicht aufgehoben wird; oder auch, wie wenn z.B. der Begriff des Vishnu auf die Abbilder desselben übertragen wird. In gleicher Weise könnte auch hier der Begriff des Udgîtha auf den Laut, oder der Begriff des Lautes auf den Udgîtha übertragen sein. – Eine Absprechung (apavâda) liegt da vor, wo bei einem Dinge der ihm früher beigelegte Begriff als ein falscher erkannt wird, und der später über dasselbe entstandene, der Sache entsprechende Begriff den früher beigelegten falschen Begriff aufhebt. So z.B. wird der Begriff des Selbstes bei dem Aggregate des Leibes und der Sinne durch den an dem wirklichen Selbste (âtmani eva) gewonnenen Begriff des Selbstes, welcher hinterher mittels der in den Worten »das bist | du« (Chând. 6, 8, 7) liegenden, sachgemässen Erkenntnis entsteht, zunichte; so auch wird der falsche Begriff über die Himmelsrichtungen durch den sachgemässen Begriff über die Himmelsrichtungen vernichtet. In gleicher Weise könnte auch hier der Begriff des Udgîtha durch den des Lautes oder der des Lautes durch den des Udgîtha vernichtet werden. – Eine Einheit (ekatvam) hinwiderum nehmen wir an, wenn die Worte Laut und Udgîtha ihrem Sinne nach nicht übereinander hinausreichen, wie es z.B. bei den Benennungen: »Höchster der zweimal Geborenen«, »Brahmane«, »irdischer Gott«, der Fall ist. – Eine Bestimmung (viçeshanam) endlich würde es sein, wenn der Laut[561] »Om«, welcher in allen Veden sich findet, indem er vorgenommen wird, auf die Sphäre des Udgîthapriesters eingeschränkt wird; ähnlich wie wenn man sagt: bringe mir dort diejenige Lotosblume, welche blau ist. Ebenso könnte es auch hier heissen: derjenige Laut Om, welcher der Udgîtha ist, den soll man verehren. – In dieser Weise stellen sich, wenn man die grammatische Verbindung der beiden Worte untersucht, die genannten Möglichkeiten ein. Da nun ein Grund, sich für das eine oder andere zu entscheiden, nicht vorzuliegen scheint, so könnte man annehmen, ›dass die Sache unentschieden sei‹. – Hierauf antwortet der Lehrer: »und wegen der Durchdringung ist es zusammenstimmend«. Das Wort »und« vertritt hier die Stelle des Wortes »aber [vielmehr]« und hat den Zweck, die drei gegnerischen Meinungen abzulehnen. Nämlich drei der genannten Meinungen werden hier missbilligt und verworfen, und die vierte Meinung, nämlich dass es eine Bestimmung sei, wird gebilligt und angenommen. – Was zunächst die Übertragung betrifft, so würde bei ihr derjenige Begriff, welcher auf einen andern übertragen wird, seinen Namen in bildlichem Sinne führen, und dafür müsste ein Lohn als Zweck angegeben sein. Meint ihr, ein solcher Lohn liege vor, weil es heisse: »fürwahr der wird zu einem Erlanger der Wünsche« u.s.w. (Chând. 1, 1, 7), so bestreiten wir das, weil hier von einem Lohne für etwas anderes die Rede ist, denn es ist der Lohn für das Anschauen des [vorher, Chând. 1, 1, 6 beschriebenen] Erlangens u.s.w., | nicht aber für die Übertragung des Udgîtha. – Auch bei der Absprechung würde in gleicher Weise der Lohn fehlen. Meint ihr, der Lohn bestehe in der Aufhebung der falschen Erkenntnis, so bestreiten wir das, weil eine Verknüpfung derselben mit dem Ziele des Menschen hier nicht zu ersehen ist. Auch kann niemals der Begriff des Lautes Om oder der Begriff des Udgîtha bei den betreffenden Worten aufgehoben werden. Übrigens hat die Stelle auch gar nicht den Zweck, die Wesenheit einer Sache zu lehren, sondern sie enthält nur eine Vorschrift der Verehrung. – Endlich ist auch die Annahme der Einheit nicht zulässig; denn dann wäre der Gebrauch beider Worte zwecklos, da schon eines allein die beabsichtigte Sache ausdrücken würde. Hierzu kommt, dass für den Laut Om, soweit er der Sphäre des Hotar oder der Sphäre des Adhvaryu angehört, die Bezeichnung als Udgîtha nicht zutreffen würde, und dass ferner der Laut Om auch nicht einmal auf den ganzen zweiten Abschnitt des Sâman, welcher Udgîtha heisst, anwendbar sein würde, so dass man für beide eine Identität des Sinnes annehmen dürfte. Es bleibt somit nur übrig, sich dafür zu entscheiden, dass er eine nähere Bestimmung sei. Nämlich »wegen der Durchdringung«, d.h. weil dieser Laut allen Veden gemeinschaftlich ist, und damit nicht der Laut als ein solcher, alldurchdringender, hier angewendet, werde, darum[562] wird der Laut durch das Wort Udgîtha näher bestimmt, damit auf diese Weise der Laut Om als ein Bestandteil des Udgîtha aufgefasst werde. – ›Aber liegt nicht auch bei dieser Annahme gleichfalls eine uneigentliche Bezeichnung vor, sofern das Wort Udgîtha den Sinn eines einzelnen Bestandteiles desselben hat?‹ – | Allerdings! aber auch bei einer uneigentlichen Bezeichnung ist eine grössere oder geringere Annäherung wohl möglich; bei der Annahme der Übertragung nun würde der Begriff einer andern Sache auf eine ganz andere übertragen werden, und die Metapher wäre eine sehr fern liegende; bei der Annahme der Bestimmung hingegen ist die Metapher eine naheliegende, sofern dabei nur durch das Ganze ein einzelner Teil desselben bezeichnet wird. Und die Worte, welche von Komplexen gebraucht werden, die finden ja auch, wie z.B. bei dem Tuche und dem Dorfe, ihre Anwendung auf die einzelnen Bestandteile [die Fäden und die Bewohner]. Also »wegen der Durchdringung ist es zusammenstimmend«, d.h. unanfechtbar, dass in dem Worte »Udgîtha« eine nähere Bestimmung des Wortes »Om« liegt.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 561-563.
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