[661] 28. sarva-anna-anumatiç ca prâṇa-atyaye, tad-darçanât
auch aller Speise Bewilligung bei Lebensgefährdung, wie zu ersehen.

Im Rangstreite der Organe heisst es bei den Chandoga's: »fürwahr, wenn einer Solches weiss, so giebt es nichts, was für ihn nicht Speise wäre« (Chând. 5, 2, 1); ebenso bei den Vâjasaneyin's: »fürwahr, für ihn giebt es nichts, was nicht als Speise zu essen, nicht als Speise zu sich zu nehmen wäre« (Bṛih. 6, 1, 14); d.h. alles dient ihm als Speise. Hierbei fragt sich, ob darin eine Erlaubnis alles zu essen, ähnlich wie die Gemütsruhe u.s.w., als ein Bestandteil des Wissens verordnet werde, oder ob | die Erwähnung nur um der Verherrlichung willen geschieht? Angenommen also, ›hier liege eine Verordnung vor; denn in diesem Sinne wird hier eine Unterweisung gegeben, die eine bestimmte Handlungsweise veranlasst. Man muss daher, wegen der unmittelbar vorhergehenden. Lehre vom Prâṇa, annehmen, dass als ein Bestandteil derselben[661] diese Aufhebung einer Enthaltungsregel gelehrt wird.‹ – Aber würde nicht dabei das kanonische Gesetz, welches erlaubte und verbotene Speisen unterscheidet, aufgehoben werden? – ›Doch nicht, denn wegen des Verhältnisses des Allgemeinen zum Besonderen ist eine Restriktion desselben möglich. So findet ja auch z.B. das Verbot, irgend ein lebendes Wesen zu verletzen, seine Restriktion in dem Gebote, das Opfertier um seine Einwilligung zur Opferung zu bitten; und ebenso wird durch die in den Worten: »man meide keine« (Chând. 2, 13, 2) liegende, auf das Wissen des Vâmadevya-Sâman bezügliche Vorschrift, kein Weib zu meiden, eine Restriktion des im allgemeinen gültigen kanonischen Gesetzes gegeben, welches zu besuchende und nicht zu besuchende Weiber unterscheidet. In derselben Weise könnte ja auch hier in dem auf die Prâṇalehre bezüglichen Ausspruche, nach welchem alles als Speise zu geniessen wäre, eine Restriktion des erlaubte und verbotene Speise unterscheidenden Kanons gefunden werden.‹ – Auf diese Annahme erwidern wir: es ist nicht richtig, dass hier eine Erlaubnis, alles zu essen, angeordnet wird; denn es ist kein imperativer Ausdruck zu finden in der Stelle: »fürwahr, wenn einer Solches weiss, so giebt es nichts, was für ihn nicht Speise | wäre« (Chând. 5, 2, 1), sondern vielmehr nur die Bezeichnung eines gegenwärtig Vorhandenen; man darf aber nicht so weit gehen, auch da, wo die Erkenntnis einer Vorschrift nicht zu finden ist, aus blosser Begierde nach specieller Normierung der Handlungsweise eine Vorschrift zu konstatieren. Hierzu kommt, dass, nachdem alles bis zu den Hunden u.s.w. herab für Speise des Prâṇa erklärt worden, es weiter heilst: »für einen, der Solches weiss, giebt es nichts, was nicht Speise wäre« (Chând. 5, 2, 1 frei); nun kann doch unmöglich alles bis zu den Hunden u.s.w. herab von dem menschlichen Leibe genossen werden, wohl aber lässt sich verstehen, wie gesagt wird, dass diese ganze Welt eine Speise des Prâṇa sei. Somit haben wir hier eine Sacherklärung (arthavâda), welche das Wissen von dem Prâṇa und seiner Speise verherrlichen soll, nicht aber eine Verordnung, welche gestattete alles zu essen. Dieses zeigen [implicite] die Worte unseres Sûtram's: »auch aller Speise Bewilligung bei Lebensgefährdung«; d.h.: nur in Lebensgefahr und in der höchsten Not ist es gestattet, jegliche Speise zu essen, »wie zu ersehen«; nämlich in dieser Weise ist zu ersehen aus der Schrift, wie z.B. der Ṛishi Câkrâyaṇa [der Abkömmling des Cakra] in übler Lage dazu schritt, verbotene Speise zu essen. Nämlich in dem Abschnitte: »Es geschah, da die Kuru's vom Hagelschlage1 heimgesucht wurden« (Chând. 1, 10, 1), wird erzählt, wie der Rishi Câkrâyaṇa, da er in Not geriet, die von[662] dem reichen Hausherrn zur Hälfte angenagten (lies: sâmi-khâditân) Bohnen verzehrte, den Trunk hingegen, | welchen ihm ebenderselbe darbot, als einen Überrest verschmähte und als Grund dafür angab: »ich wäre nicht leben geblieben ohne jene zu essen«, und: »in meinem Belieben [hingegen] steht es, meinen Durst mit Wasser zu löschen« (Chând. 1, 10, 4), und wie ebenderselbe am folgenden Morgen sogar die von ihm selbst und von einem andern übrig gelassenen und sogar noch abgestandenen Bohnen verzehrte. Indem die Schrift in dieser Weise zeigt, wie derselbe Übriggebliebenes und sogar das Abgestandene des Übriggebliebenen verzehrte, so giebt sie dadurch überaus deutlich als ihr Princip zu verstehen, dass im Falle einer Lebensgefahr zur Erhaltung des Lebens auch verbotene Speise gegessen werden darf; hingegen im normalen Zustande ist dieses zu vermeiden, und zwar auch für einen Solchen, der die Erkenntnis besitzt; dies ergiebt sich aus der Verschmähung des Trunkes. Somit ist in den Worten »fürwahr, wenn einer Solches weiss« u.s.w., nur eine Sacherklärung (arthavâda) zu finden.

1

oder etwa »Heuschrecken«?- rakta-varṇâḥ kshudra-pakshi-viçeshâḥ, Ânandagiri zu unserer Stelle.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 661-663.
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