[504] 3. mâyâ-mâtran tu, kârtsnyena an-abhivyakta-svarûpatvât
vielmehr eine blosse Illusion, weil sie eine nicht mit Vollständigkeit sich darlegende Natur hat.

Das Wort »vielmehr« beseitigt diese Annahme. Es ist nicht wahr, was behauptet wurde, dass die Schöpfung im Zwischenstande eine vollkommen reale sei; vielmehr beruht diese Schöpfung im Zwischenstande nur auf Illusion, und es ist nicht daran zu denken, dass sie vollkommen real sei; | warum? »weil sie eine nicht mit Vollständigkeit sich darlegende Natur hat«; d.h. der Schlaf hat eine nicht mit Vollständigkeit, nicht in der Weise eines vollkommen realen Gegenstandes sich darlegende Natur. Aber was ist hier unter Vollständigkeit zu verstehen? Es ist die Übereinstimmung mit Raum, Zeit und Ursache, sowie die Unwiderleglichkeit. Man kann nämlich dem Traume weder die den vollkommen realen Dingen angehörigen Verhältnisse des Raumes der Zeit und der Ursache noch auch die Unwiderleglichkeit zuschreiben. Zunächst nämlich ist beim Traume schon kein Raum vorhanden, welcher für Wagen u.s.w. geeignet wäre, denn in dem beschränkten Raume des Leibes haben Wagen u.s.w. keinen Platz. – ›Nun ja, könnte man sagen, aber die Seele kann ja den Traum ausserhalb des Leibes schauen, wie sie ja auch sich dabei mit Dingen befasst, welche räumlich von ihr getrennt sind; und auch die Schrift lehrt, dass der Traum ausserhalb des Leibes stattfinde, wenn sie sagt: »unsterblich schwingt sie aus dem Nest empor sich und schweift unsterblich wo es ihr beliebet« (Bṛih. 4, 3, 12.) Und auch die verschiedenen Vorstellungen des Stehens und Gehens lassen sich nicht erklären, ohne dass das betreffende Geschöpf aus sich selbst herausgeht.‹ – Wir antworten: nein! denn die Möglichkeit ist nicht denkbar, dass ein eingeschlafenes Geschöpf in einem Augenblicke zu einer hundert Meilen weit entfernten Gegend hinübereilen oder von dort zurückeilen könne. Ja, zuweilen kommt es vor, dass jemand einen Traum erzählt, in welchem eine Rückkehr gar nicht stattfand, indem er sagt: »im Lande der Kuru's lag ich im Bette, wurde vom Schlaf überkommen, wurde im Traume in das Land der Pañcâla's geführt, und hier bin ich erwacht.« Wäre er wirklich aus seinem Leibe herausgegangen,[504] so müsste er im Lande der Pañcâla's erwacht sein, denn zu diesen war er hingeführt worden; er erwacht aber vielmehr im Lande der Kuru's. Hierzu kommt, dass, während der Träumende mit seinem Leibe in ein anderes Land gelangt zu sein vermeint, die andern Anwesenden eben diesen Leib im Bette liegen sehen. Ferner ist zu bemerken, | dass die Gegenden in Wirklichkeit gar nicht so sind, wie einer sie im Traume gesehen hat; wäre er dabei wirklich hinübergeeilt und hätte die Dinge angeschaut, so müsste er sie mit wachem Auge und ebenso gesehen haben wie sie in Wirklichkeit sind. Und auch die Schrift lehrt, dass der Traum nur innerhalb des Leibes stattfindet, wenn sie nach den Worten: »wenn er so im Traume wandelt« hinzufügt: »so durchzieht er nach Belieben den eigenen Leib« (Bṛih. 2, 1, 18.) Somit muss, wegen des Widerspruches gegen eine betreffende Schriftäusserung, das andere Wort der Schrift, dass er ausserhalb des Nestes weile, als bildlich aufgefasst und dahin erklärt werden, dass es gleichsam ist, als ob er ausserhalb des Nestes unsterblich schweife; denn wer, während er in dem Leibe wohnt, von demselben keinen Gebrauch macht, von dem kann gesagt werden, dass er gleichsam ausserhalb des Leibes weile. Und auch die verschiedenen Vorstellungen des Stehens und Gehens hat man unter diesen Umständen nur als eine Täuschung zu betrachten. – Weiter findet im Traume auch ein Widerspruch gegen die Zeit statt; man schläft in der Nacht und meint es sei Tag in Bhârata-Varsha (Indien); und in einem nur eine Stunde dauernden Traume lässt man zuweilen ganze Reihen von Jahren verstreichen. – Endlich sind auch keine Ursachen im Traume vorhanden, welche für das Erkennen oder Handeln geeignet wären; denn da die Organe eingezogen sind, so ist kein Auge u.s.w. da, welches den Wagen u.s.w. erblicken könnte; und was die Hervorbringung des Wagens betrifft, woher sollte dazu auch nur irgendwie dem Träumenden die Fähigkeit oder das Material kommen? Auch finden diese im Traum erschaffenen Wagen beim Erwachen ihre Widerlegung; ja sie werden oft schon im Traume selbst widerlegt, indem sich zeigt, dass Anfang und Ende nicht zusammenstimmt. Denn was man im Traume manchmal für einen Wagen hält, das wird im Augenblicke darauf ein Mensch, | und was man für einen Menschen hält, wird im Augenblicke darauf ein Baum. Auch lehrt die Schrift geradezu, dass es im Traume keine Wagen u.s.w. gebe, wenn sie sagt: »daselbst sind nicht Wagen, nicht Gespanne, nicht Strassen« (Bṛih. 4, 3, 10.) – Somit ist das Traumgesicht eine blosse Illusion.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 504-505.
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