[520] 11. na sthānato 'pi parasya ubhayali gaṃ, sarvatra hi
und auch nicht wegen der Standorte hat der Höchste beide Charaktere; denn allenthalben ...

Das Brahman, in welches beim Tiefschlafe u.s.w. die Seele durch das zur-Ruhe-Kommen der Upādhi's eingeht, dieses Brahman wollen wir jetzt auf Grund der Schrift seiner Natur nach betrachten.

Es giebt in Betreff des Brahman zwei Arten von Schriftstellen; die einen, wie »allwirkend ist er, allwünschend, allriechend, allschmeckend« (Chānd. 3, 14, 2), legen ihm gewisse Unterschiede als Charakter bei; die andern hingegen, wie »nicht grob und nicht fein, nicht kurz und nicht lang« (Bṛih, 3, 8, 8), lehren, dass er keine Unterschiede als Charakter besitze. Soll man nun auf Grund dieser Schriftstellen annehmen, dass das Brahman beide Charaktere an sich trage oder nur einen von beiden? Und wenn einen von beiden, ist es dann als mit Unterschieden behaftet, oder als unterschiedlos anzunehmen? Das ist zu untersuchen. – Zunächst nun könnte man den Schriftstellen zuliebe, welche beide Charaktere von ihm lehren, annehmen, ›dass das Brahman eben beide Charaktere an sich trage‹. – Auf diese Annahme erwidern wir, dass »der Höchste«, das Brahman, an und für sich unmöglich von beiderlei Charakter sein kann. Denn ein und dasselbe Ding kann unmöglich an und für sich als mit den Unterschieden der Gestalt u.s.w. behaftet und als das Gegenteil gedacht werden, weil dies sich widerspricht. – ›So beruht vielleicht [die Behaftung des Brahman mit Unterschieden] auf seinen »Standorten«, nämlich auf seiner Verbindung mit den Upādhi's der Erde u.s.w. [vgl. Bṛih. 3, 7, 3: »der, in der Erde wohnend, von der Erde verschieden ist« u.s.w.]?‹ – Auch das geht nicht; denn durch die Verbindung mit Upādhi's kann ein Ding, wenn es von einer bestimmten Art ist, keine andere Naturbeschaffenheit annehmen. Denn der Bergkrystall, welcher durchsichtig ist, kann nicht durch die Verbindung mit den Upādhi's der roten Farbe u.s.w. undurchsichtig werden; | vielmehr beruht es auf einer blossen Täuschung, wenn man ihm die Undurchsichtigkeit beilegt, und es ist nur das Nichtwissen, welches diese Upadhi's an ihm annimmt. Wenn man daher[520] den einen wie den andern Charakter dem Brahman beigelegt findet, so hat man doch ohne Wahl festzuhalten, dass das Brahman frei von allen Unterschieden, nicht aber das Gegenteil ist. »Denn allenthalben« wird in den Schriftstellen, welche den Zweck haben, die eigene Natur des Brahman darzulegen, in Worten wie »unhörbar, unfühlbar, unsichtbar, unvergänglich« (Kāth. 3, 15) das Brahman als frei von allen Unterschieden dargestellt.

Quelle:
Die Sūtra's des Vedānta oder die Ēārīraka-Mīmāṅsā des Bādarāyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 520-521.
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