[532] 22. prakṛita-etâvattvaṃ hi pratishedhati; tato bravîti ca bhûyah
denn sie [die Schrift] verneint das vorerwähnte So-und-so-sein; auch sagt sie es darauf des Weitern.

Die Schrift sagt: »wahrlich es giebt zwei Erscheinungsformen des Brahman, nämlich das Gestaltete und das Ungestaltete, das Sterbliche und das Unsterbliche, das Stehende und das Gehende,[532] das Seiende und das Jenseitige«; und nachdem sie sodann die fünf Elemente in zwei Klassen geteilt hat [1. Erde, Wasser und Feuer; 2. Wind und Äther] und der Essenz des Ungestalteten, welche sie »Purusha« nennt, das Aussehen wie ein Safrankleid u.s.w. beigelegt hat, so heisst es weiter: »aber seine Bezeichnung ist: ›es ist nicht so, es ist nicht so‹, denn nicht giebt es von diesem, – darum heisst es ›es ist nicht so‹, – ein anderes, verschiedenes« (Bṛih. 2, 3.) – Hier wollen wir ermitteln, worauf sich diese Negation bezieht. Denn etwas Besonderes, von dem gesagt wäre: »dieses ist das«, und welches sodann negiert würde, liegt nicht vor. Nun wird aber hier durch das Wort »so« (iti) etwas als zu negierend herangezogen, denn in dem Ausdrucke »es ist nicht so, es ist nicht so« (na iti, na iti) bezieht sich die Anwendung der Negation »nicht« auf das Wort »so«. Das Wort »so« (iti) aber muss auf etwas in der Nähe Befindliches gehen, indem es so viel bedeutet wie »in dieser Weise« (evam), für welchen Gebrauch auch die Erfahrung spricht in Redewendungen wie: »so (iti) hat es der Lehrer erklärt«. | In der Nähe befindlich aber sind hier zufolge des Zusammenhanges die beiden zur Weltausbreitung gehörigen Erscheinungsformen des Brahman sowie dieses Brahman selbst, dessen Erscheinungsformen sie sind. Hier können wir zweifelhaft darüber sein, ob durch die Negation beides, die Erscheinungsformen und dasjenige, dessen Erscheinungsformen sie sind, negiert wird, oder nur eines von beiden. Und wenn eines von beiden, so fragt sich weiter, ob das Brahman negiert wird und seine Erscheinungsformen übrig bleiben, oder ob die Erscheinungsformen negiert werden, und das Brahman übrig bleibt? –

Man könnte denken, ›weil von dem einen wie dem andern vorher die Rede war, dass beides negiert werde. Denn zu zwei Negationen würde das zweimalige Vorkommen des Ausdruckes »es ist nicht so« passen. Durch die eine Negation, so könnte man denken, wird die zur Weltausbreitung gehörige Erscheinungsform negiert, und durch die andere dasjenige, welches die Erscheinungsform besitzt, nämlich das Brahman [als ein gestaltetes] selbst. Oder auch es wird nur das Brahman, welches die Erscheinungsformen besitzt, negiert. Denn auf dieses würde eine Negation passen, sofern es wegen seiner Erhabenheit über Rede und Gedanken seiner Natur nach unvorstellbar ist; während hingegen auf die Ausbreitung seiner Erscheinungsform die Negation nicht passen würde, weil diese sinnlich wahrnehmbar vorliegt. Die Wiederholung könnte dabei um des Nachdruckes willen gesetzt sein‹. –

Auf diese Annahme erwidern wir: zunächst kann sich die Negation nicht auf beides beziehen, weil dieses ein Verfallen in den Nihilismus sein würde. Denn auf irgend etwas Realem muss man fussen, wenn man etwas als nicht real negieren will, wie z.B. auf dem Strick, wenn man negiert, dass er eine Schlange sei. Dies aber[533] ist nur dann möglich, wenn irgend etwas als seiend vorhanden übrig bleibt. Und was würde bei einer totalen | Negation als jenes andere Sein übrig bleiben? Ja, selbst wenn man kein anderes übrig lassen wollte, so würde das eine der beiden [kontradiktorisch Entgegengetzten], deren Negation beabsichtigt wird, weil man es gar nicht negieren kann, als real sich behaupten, sofern seine Negation unmöglich wäre. Weiter aber ist auch eine Negation des Brahman gar nicht anzunehmen. Denn dem würde der Eingang (Bṛih. 2, 1, 1) widersprechen, wo es hiess: »ich will dir das Brahman erklären«. Dem würde ferner der Tadel widersprechen, welcher in den Worten liegt: »der ist nur ein Nichtseiender, der Brahman als nichtseiend weiss« (Taitt. 2, 6.) Dem würde endlich auch die Versicherung widersprechen: »es ist! so hat man anzunehmen« (Kâṭh. 6, 13); ja der ganze Vedânta würde sonst erschüttert werden. Und auch die Erhabenheit des Brahman über Rede und Gedanken kann nicht als ein Nichtsein bezeichnet werden. Denn es geht nicht an, dass in den Vedântatexten mit einem grossen Apparate von Mitteln durch Worte wie: »der Brahmanwisser erlangt das Höchste« (Taitt. 2, 1), »Wahrheit, Erkenntnis, unendlich ist das Brahman« u.s.w. (Taitt. 2, 1), das Brahman gelehrt und sodann dasselbe als nichtseiend bezeichnet werde; denn es heisst (Indische Sprüche 2. Aufl., 3117):


»Weit besser ist, nicht an den Schmutz zu rühren,

Als dass man hinterher sich waschen muss.«


Somit ist es vielmehr auf eine Darlegung des Brahman abgesehen, wenn es von ihm heisst: »vor dem die Worte kehren um, und die Gedanken ohne ihn zu finden« (Taitt. 2, 4), und diese Worte besagen, dass das Brahman über Rede und Gedanken erhaben und als die innere Seele kein Bestandteil der Sinneswahrnehmung, sondern vielmehr seiner Natur nach ewig, rein, weise und frei ist. Somit folgt, dass die Ausbreitung der Erscheinungsformen des Brahman | negiert wird, und das Brahman selbst übrig bleibt. Dieses drückt der Lehrer durch die Worte aus: »denn sie verneint das vorerwähnte So-und-so-sein«. Nämlich das vorerwähnte So-und-so-sein, d.h. die begrenzte, in Gestaltetem und Ungestaltetem bestehende Erscheinungsform des Brahman, diese verneint unser Schriftwort. Was verneint wird, das ist also die vorerwähnte, in dem vorherigen Texte in Bezug auf die Naturgötter und auf das eigene Selbst auseinandergesetzte Erscheinungsform, so wie die durch sie bedingte, auf Vorstellungen beruhende, andere Erscheinungsform, welche als die Essenz des Ungestalteten mit dem Namen »Purusha« belegt wird, ihrem Wesen nach auf einem [bloss begrifflichen] Merkmale beruht und durch die Gleichnisse von dem Safrankleide u.s.w. verdeutlicht wird, sofern es nicht möglich ist, dass diese Essenz des Ungestalteten, der Purusha, eine dem Auge[534] ergreifbare Gestalt annimmt. Um diese zur Weltausbreitung gehörige Erscheinungsform des Brahman vermittelst des auf ein Nahestehendes verweisenden Wortes »so« zu negieren, dazu wird das Wort »nicht« demselben zugefügt. Das Brahman hingegen wird, um seine Erscheinungsformen zu specificieren, im Vorhergehenden nur als Genitiv gebraucht, und nicht so, dass es selbst die in Frage stehende Sache wäre. Und nachdem in dieser Weise die Zweiheit der Erscheinungsformen dargelegt worden, so heisst es, um die Natur desjenigen, dem diese Erscheinungsformen angehören, kund zu machen: »aber seine Bezeichnung ist: ›es ist nicht so, es ist nicht so‹« (Bṛih. 2, 3, 6.) Es ist klar, dass hier die Wesenheit des Brahman dadurch kund gemacht wird, dass ihm die angenommenen Erscheinungsformen abgesprochen werden, indem diese gesamte auf Brahman beruhende | Weltwirkung mit den Worten »es ist nicht so, es ist nicht so«, negiert wird. Auf die Weltwirkung passt, weil sie zufolge des Schriftwortes von dem sich Anklammern an Worte (vgl. Sûtram 2, 1, 14) als »das Nichtreale« gilt, die Ablehnung, welche in den Worten »es ist nicht so, es ist nicht so«, liegt, nicht aber auf das Brahman, weil dieses [als das Subjekt des Erkennens] die Wurzel aller Annahmen ist. – Auch darf man hier nicht die Frage aufwerfen, wie es komme, dass der Schriftkanon, nachdem er selbst die Zweiheit der Erscheinungsformen gelehrt hat, selbst sie dann wieder negiere, während es doch besser sei, nicht an den Schmutz zu rühren, als dass man hinterher sich waschen müsse. Denn der Schriftkanon bespricht die Zweiheit der Erscheinungsformen gar nicht, um dieselbe zu lehren, sondern der Weltbrauch ist es, welcher an dem Brahman diese Zweiheit der Erscheinungsformen annimmt, und diesen berührt die Schrift, um ihm zu widersprechen und um die reine Wesenheit des Brahman darzulegen; so stimmt es zusammen. Die beiden Negationen aber dienen, der Zahl gemäss, um die beiden Erscheinungsformen, das Gestaltete [Erde, Wasser, Feuer] und das Ungestaltete [Luft, Äther] zu negieren. Oder auch die erste Negation negiert die Gesamtheit der Elemente, und die andere die Gesamtheit der Vorstellungen [von dem Purusha]. Oder endlich mau kann annehmen, dass in den Worten »es ist nicht so, es ist nicht so« eine Allmöglichkeitsbezeichnung (vîpsâ) vorliegt, welche besagt, dass Brahman alles, was man sich nur denken kann, nicht ist. Denn bei einer auf eine bestimmte Anzahl beschränkten Negation könnte, wenn Brahman dieses oder jenes nicht ist, ein Weiterfragen, was denn Brahman sonst sei, sich behaupten; bei einer Allmöglichkeitsbezeichnung aber wird durch Verneinung alles möglichen objektiven Seins das Brahman als die nie Objekt seiende innere Seele festgehalten, und das Weiterfragen hört auf. Somit steht fest, dass unsere Stelle nur die an dem Brahman angenommene Weltausbreitung verneint | und das Brahman selbst bestehen lässt; und[535] dieses steht darum fest, weil »sie es auch darauf«, nämlich nach der Negation, »des Weiteren sagt«. Denn wenn es heisst, es gebe »kein anderes von ihm Verschiedenes«, so würde, wenn die Negation auf ein blosses Nichtsein hinausliefe, die Einwendung gemacht werden können, welches denn jenes andere, Verschiedene sei [von dem es kein anderes Verschiedenes gebe]. Somit ist die Konstruktion der Stelle folgende. Nachdem mit den Worten »es ist nicht so, es ist nicht so« das Brahman bezeichnet worden, so wird weiter diese Bezeichnung »es ist nicht so, es ist nicht so« ihrem Sinne nach ausgelegt in den Worten: »nicht giebt es von ihm« nämlich von dem Brahman, ein Verschiedenes [mit dem es verglichen werden könnte]; »darum (iti d.h. aus diesem Grunde (tatas), »heisst es: ›es ist nicht so, es ist nicht so‹«, während hingegen das Brahman selber nicht nicht ist; und dieses besagt, dass das von allem anderen verschiedene, nicht negierte Brahman wirklich sei. – Will man hingegen [richtiger] die Worte so konstruieren: »denn nicht giebt es von dieser, – darum heisst es: ›es ist nicht so, es ist nicht so‹«, – d.h. von der die Weltausbreitung verneinenden Bezeichnung, »eine andere, von ihr verschiedene« Bezeichnung des Brahman, so muss man die Worte des Sûtram: »auch sagt sie es darauf des Weiteren«, auf die [in den Textworten der Schrift folgende] Benennung des Brahman beziehen; denn die Schrift sagt des Weiteren: »aber seine Benennung ist: ›die Realität der Realität‹, denn die Lebensorgane sind die Realität, und er ist ihre Realität« (Bṛih. 2, 3, 6.) Dieses aber ist nur dann richtig, wenn die Negation auf das Sein des Brahman hinausläuft, nicht aber, wenn sie auf ein blosses Nichtsein hinausläuft; denn was sollte dann die Realität der Realität genannt werden? Somit bleiben wir dabei stehen, dass diese Negation auf ein Sein des Brahman, nicht aber auf ein blosses Nichtsein hinausläuft.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 532-536.
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