[517] 10. mugdhe 'rdha-sampattiḥ, pariçeshât
beim Betäubten ein halber Eingang, wegen des Überschiessens.

Noch bleibt der Betäubte zu besprechen, den man im gewöhnlichen Leben ohnmächtig nennt, und es fragt sich, worin sein Zustand besteht. – Hier könnte jemand sagen: ›es giebt doch nur drei Zustände der im Körper weilenden individuellen Seele, das Wachen, den Traumschlaf und den Tiefschlaf, wozu als vierter noch das Abscheiden von dem Leibe kommt; von irgendeinem fünften Zustande der Seele hingegen ist | weder in Schrift noch Smṛiti die Rede, daher die Ohnmacht dem einen oder andern der vier Zustände zugezählt werden muss.‹ – Auf diese Annahme erwidern wir: zunächst kann der Ohnmächtige sich nicht in dem Zustande des Wachens befinden, weil ihm die Wahrnehmung der Dinge mittels der Sinne abgeht. – ›Schon recht, aber es könnte doch mit dem Ohnmächtigen etwa sein wie mit dem Pfeilschnitzer. Wie nämlich der Pfeilschnitzer, obwohl er wach ist, wegen Heftung seiner Aufmerksamkeit auf den Pfeil keine andern Dinge wahrnimmt, so könnte es auch geschehen, dass der Ohnmächtige, wegen Concentration seiner Aufmerksamkeit auf die Empfindung des durch die Keulenschläge u.s.w. verursachten Schmerzes, obwohl er wach ist, keine andern Dinge wahrnimmt.‹ – Aber dem ist nicht so, und zwar weil er ohne Bewusstsein ist. Denn der Pfeilschnitzer, wennschon sein Geist in Anspruch genommen ist,[517] spricht: ich habe diese Zeit hindurch nur den Pfeil wahrgenommen. Der Ohnmächtige hingegen, wenn er wieder zu Bewusstsein kommt, spricht: ich war diese Zeit hindurch in blinde Finsternis versenkt und habe von gar nichts ein Bewusstsein gehabt. Hierzu kommt, dass der Wachende, wenn auch sein Geist einem einzigen Dinge zugewendet ist, doch seinen Leib aufrecht hält, während hingegen der Leib des Ohnmächtigen zur Erde stürzt; woraus ersichtlich, dass derselbe nicht wachend ist. Ebensowenig aber sieht er Träume, weil er ohne Bewusstsein ist. Endlich ist er auch nicht tot, weil er noch Odem und Wärme in sich hat. Denn wenn einer ohnmächtig ist, und man wissen will, ob er tot ist oder noch lebt, so untersucht man die Herzgegend, um zu bestimmen, ob er noch Wärme hat oder nicht, und die Nasengegend, um zu wissen, ob er noch Odem hat oder nicht. Bemerkt man an ihm kein Vorhandensein von Odem und Wärme, so erklärt man ihn für tot | und holt das Holz zu seiner Verbrennung herbei; bemerkt man hingegen an ihm noch Odem oder Wärme, so erklärt man, dass er nicht tot ist und behandelt ihn, um ihn wieder zum Bewusstsein zu bringen. Kommt er wieder auf, so war er auch noch nicht seinem Lose verfallen, denn wer erst zu Yama eingegangen ist, der kehrt aus Yama's Reich nicht wieder zurück. – ›So ist vielleicht die Ohnmacht ein Tiefschlaf, weil dabei kein Bewusstsein und doch auch kein Tod stattfindet?‹ – Auch das nicht, weil beide verschieden sind. Der Ohnmächtige atmet oft längere Zeit nicht, sein Leib zittert, sein Angesicht ist schaudererregend, seine Augen sind weit aufgerissen. Der Tiefschlafende hingegen zeigt ein friedliches Angesicht, atmet gleichmässig und fortwährend, seine Augen sind geschlossen, sein Leib zittert nicht, und man kann ihn durch blosses Streicheln mit der Hand aufwecken, während der Ohnmächtige nicht einmal durch Hammerschläge erwacht. Auch besteht ein Unterschied zwischen Ohnmacht und Tiefschlaf in der Veranlassung; die Ohnmacht wird verursacht durch Keulenschläge u.s.w., der Schlaf durch Müdigkeit. Und auch die allgemeine Annahme ist dagegen, dass man den Ohnmächtigen für einen Tiefschlafenden ansieht. Somit nehmen wir an, dass die Ohnmacht »wegen des Überschiessens« [über die übrigen Zustände] »ein halber Eingang« ist; denn sofern der Ohnmächtige bewusstlos ist, ist er eingegangen; sofern er jedoch von dem andern verschieden ist, ist er nicht eingegangen. – ›Aber wie kann man behaupten, dass die Ohnmacht nur ein halber Eingang sei? Denn die Schrift sagt doch in Bezug auf den Tiefschlafenden: »alsdann ist er, o Teurer, eins geworden mit dem Seienden« (Chând. 6, 8, 1); – »dann ist der Dieb nicht Dieb« (Bṛih. 4, 3, 22); – »diese Brücke überschreiten nicht Tag und Nacht, | nicht das Alter, nicht der Tod und nicht das Leiden, nicht gutes Werk noch böses Werk« (Chând. 8, 4, 2.)[518] Nämlich die guten und bösen Werke werden ja an der Seele dadurch vergolten, dass in ihr die Vorstellungen der Lust- und Schmerzempfindung entstehen, und diese Vorstellungen der Lustempfindung und Schmerzempfindung sind im Tiefschlafe nicht vorhanden. Nun sind aber diese beiden Vorstellungen bei dem Ohnmächtigen ebenso wenig vorhanden, und somit muss man auch in Betreff der Ohnmacht annehmen, dass sie zufolge des zur-Ruhe-Kommens der Upâdhi's ebenso gut wie der Tiefschlaf ein vollständiger Eingang und nicht bloss ein halber Eingang ist.‹ – Hierauf erwidern wir: wir behaupten gar nicht, dass beim Ohnmächtigen die Seele nur zur Hälfte mit dem Brahman eins geworden sei, sondern nur dieses, dass die Ohnmacht halb auf Seiten des Tiefschlafes und halb auf Seiten der andern Zustände stehe. Nur dies behaupten wir und haben ja die Ähnlichkeit und Verschiedenheit der Ohnmacht mit dem Tiefschlafe dargelegt. Es ist aber die Ohnmacht eine Pforte des Todes. Wenn nämlich bei dem Betreffenden noch ein Rest von [abzubüssenden] Werken rückständig ist, so kehren ihm Rede und Bewusstsein zurück; sind hingegen seine Werke ohne Rückstand abgelaufen, so verlassen ihn Odem und Wärme; und darum betrachten die Brahmanwisser diesen Zustand als einen halben Eingang. Wenn hingegen behauptet wurde, dass die allgemeine Annahme nicht für einen solchen fünften Zustand sei, so schadet das nicht; denn weil dieser Zustand nur ein gelegentlicher ist, darum wird er nicht allgemein angenommen, doch ist er wohlbekannt sowohl aus der Erfahrung als auch aus dem Âyurveda (der Heilkunde.) Als fünfter aber wird er nicht gerechnet, und mit Recht, da er nur ein halber Eingang ist.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 517-519.
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