[144] 13. îkshati-karma-vyapadeçât saḥ
weil als Werk (Objekt) des Schauens bezeichnet, er.

»Fürwahr, o Satyakâma, der Laut Om ist das höhere und das niedere Brahman. Darum erlangt der Wissende, | wenn er sich auf denselben stützt, das eine oder das andere« (Praçna 5, 2.) Im Verlaufe dieser Stelle heisst es: »wenn er hingegen durch alle drei Elemente des Lautes Om den höchsten Geist meditiert« u.s.w. (Praçna 5, 5.) Hier entsteht die Frage, ob in dieser Stelle von einer Meditation des höhern oder des niedern Brahman die Rede ist, indem ja nach den Eingangsworten der Wissende, wenn er sich auf den Laut Om stützt, von dem höhern und niedern [Brahman] das eine oder das andere erlangt.

Angenommen also, ›es sei hier von dem niedern Brahman die Rede; warum? weil in den Worten »nachdem er in das Licht, in die Sonne eingegangen« und »von den Sâman-Liedern wird er emporgeführt[144] zur Brahmanwelt« (Praçna 5, 5) demjenigen, der solches weiss, eine räumlich begrenzte Belohnung verheissen wird. Denn wer das höhere Brahman erkannt hat, der kann nicht eine räumlich begrenzte Belohnung erlangen, weil das höhere Brahman allgegenwärtig ist. Man darf nicht einwenden, dass bei der Auffassung als das niedere Brahman die Bezeichnung, dass er »den höchsten Geist« meditiere, nicht passe, indem, im Vergleich mit dem Leibe, der Prâṇa [d.h. das niedere Brahman als Princip des individuellen Lebens] als das Höhere bezeichnet werden kann.‹

Auf diese Einwendung antworten wir, dass es nur das höhere Brahman sein kann, welches hier zur Meditation empfohlen wird; warum? »weil er als Werk (Objekt) des Schauens bezeichnet | wird.« Das Schauen bedeutet ein Sehen, da der Begriff des Schauens unter dem [allgemeineren] des Sehens befasst (darçana-vyâpyam) wird. Der hier zur Meditation empfohlene Geist wird nämlich im weiteren Verlaufe als ein Objekt der Thätigkeit des Schauens bezeichnet, denn es heisst (Praçna 5, 5): »dann schaut er ihn, der höher ist als dieser höchste Komplex des Lebens, den in der Burg [des Leibes] wohnenden Geist (puri-çayaṃ purusham.)« Die Thätigkeit des Meditierens könnte sich auch auf ein Objekt beziehen, welches in Wirklichkeit nicht so ist, indem man auch einen Gegenstand des blossen Wunsches meditieren kann; die Thätigkeit des Schauens hingegen muss als Objekt einen Gegenstand haben, welcher wirklich in der Erfahrung ebenso vorhanden ist; darum kann nur der höchste Âtman, weil nur er der Gegenstand der vollkommenen Erkenntnis ist, hier unter dem Objekte der Thätigkeit des Schauens verstanden werden. Und eben derselbe ist anzuerkennen als derjenige, welcher vorher mit den Worten »der höchste Geist« als Gegenstand der Meditation bezeichnet wird. – ›Aber bei der Meditation hiess es doch »der höchste Geist«, und bei dem Schauen heisst es »höher als der höchste«; wie kann also hier der nämliche an beiden Stellen verstanden werden?‹ – Wir antworten: zunächst sind die Worte: »der höchste« und »Geist« an beiden Stellen gemeinsam, und unter dem »Komplexe des Lebens« ist nicht etwa der vorher erwähnte, zu meditierende Geist zu verstehen, so dass der zu schauende Geist noch höher als dieser höchste, und ein anderer wäre. – ›Aber was ist denn der »Komplex des Lebens«?‹ – Wir antworten: »Komplex« bedeutet eine Kompaktheit, welche, auf das Leben bezogen, ein »Komplex des Lebens« heisst, | der so aus Leben besteht wie der Salzklumpen aus Salz; nämlich derjenige Zustand des höchsten Âtman, in welchem er, zufolge der Upâdhi's, als die solidarische Gesamtheit der individuellen Seelen [d.h. als Hiraṇyagarbha] erscheint, und welcher höher steht als die Sinnendinge und Sinnesorgane, dieser ist hier unter dem »Komplexe des Lebens« zu verstehen. – Andere Meinung: es heisst unmittelbar vorher: »von[145] den Sâman-Liedern wird er emporgeführt zur Brahmanwelt«; diese Brahmanwelt wird, weil sie höher steht als die anderen Welten, hier der »Komplex des Lebens« genannt. Weil nämlich alle Lebenden (individuellen Seelen), wie sie mit den Organen umhüllt sind, in dem alle Organe beseelenden und die Brahmanwelt bewohnenden Hiraṇyagarbha zu einem Aggregate vereinigt sind, darum heisst die Brahmanwelt der »Komplex des Lebens«. – Der noch höher als dieser Komplex stehende höchste Âtman, welcher das Objekt, des Schauens bildet, dieser ist konsequenterweise auch schon als das Objekt, um das es sich bei dem Meditieren handelt, anzunehmen. Auch passt die [schon beim Meditieren vorkommende] Bezeichnung als der »höchste Geist« nur dann, wenn man sie auf den höchsten Âtman bezieht; denn der »höchste Geist« ist eben der höchste Âtman, »höher als der kein and'res ist vorhanden« (vgl. Çvet. 3, 9); wie auch eine andere Schriftstelle sagt (Kâṭh. 3, 11):


Ȇber den Geist ist nichts erhaben,

Er ist Endziel und höchster Gang.«


| Denn wenn zu Anfang der Laut Om auf Grund seiner Zerlegung [in die drei Buchstaben a-u-m] für das höhere und niedere Brahman erklärt, sodann aber, als der Gegenstand, welcher durch den [ungeteilten] Laut Om zu meditieren sei, der »höchste Geist« bezeichnet wurde, so folgt hieraus, dass man unter dem höchsten Geiste das höhere Brahman zu verstehen hat. Ferner auch wenn es heisst: »gleich wie ein Bauchfüssler (Schlange) von seiner Haut, also wird selbiger befreit von dem Übel« (Praçna 5, 5), so beweisen diese Worte, indem sie als Lohn eine Befreiung von dem Übel verheissen, dass es sich hier um die Meditation des höchsten Âtman handelt. Wenn endlich behauptet wurde, dass für die Meditation des höchsten Âtman eine räumlich begrenzte Belohnung nicht angemessen sei, so entgegnen wir, dass allerdings für denjenigen, welcher den höchsten Âtman meditiert, indem er sich dabei auf den dreiteiligen Laut Om stützt, als Frucht die Erlangung der Brahmanwelt und, durch sie als Zwischenstufe, die vollkommene Erkenntnis (samyag-darçanam) erreicht wird, so dass wir hier eine Hinweisung auf die Stufenerlösung (kramamukti) anzunehmen haben, daher der Einwand unbegründet ist. [Doch nicht so ganz; da nach dem System eben diese Stufenerlösung die Frucht der Meditation des niedern Brahman ist, während die des höhern unmittelbar zur Erlösung führt.]

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 144-146.
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