[198] 42. sushupti-utkrântyor bhedena
wegen derjenigen als verschieden bei Tiefschlaf und Auszug.

D.h. »wegen der Bezeichnung«, wie man [aus dem vorigen Sûtram] herübernehmen muss. – Im sechsten Abschnitte des Bṛihadâraṇyakam heisst es: »was ist das für ein Selbst? – Es ist unter den Lebensorganen der aus Erkenntnis bestehende, in dem Herzen innerlich leuchtende Geist« (Bṛih. 4, 3, 7); mit diesen Worten beginnt eine längere Auseinandersetzung, die sich auf das Selbst (den Âtman, die Seele) bezieht. Es fragt sich, ob dieselbe nur den Zweck hat, die Natur der wandernden Seele darzulegen, oder ob sie den Zweck hat, die Natur der nichtwandernden mitzuteilen? –

Angenommen also, ›es handele sich nur um die Natur der wandernden Seele; warum? wegen des Anfangs und wegen des Schlusses. Zu Anfang nämlich heisst es: »es ist unter den Lebensorganen der aus Erkenntnis bestehende« (Bṛih. 4, 3, 7); dies[198] weist auf die verkörperte Seele hin; und da in den Schlussworten: »wahrlich dieses grosse, ungeborene Selbst, das ist unter den Lebensorganen jener aus Erkenntnis bestehende« (Bṛih. 4, 4, 22), das Thema das nämliche geblieben ist, so muss man annehmen, dass auch in dem mittleren Teile durch Besprechung der Zustände des Wachens u.s.w. eben dasselbe [d.h. die Natur der verkörperten Seele] auseinandergesetzt werden soll.‹

Auf diese Annahme erwidern wir, dass der in Rede stehende Abschnitt vielmehr den Zweck hat, über den höchsten Gott zu belehren, und nicht bloss von der verkörperten Seele zu erzählen; | warum? »wegen der Bezeichnung« des höchsten Gottes »als verschieden« von der verkörperten Seele »bei Tiefschlaf und Auszug«. Was also zunächst den Tiefschlaf betrifft, so heisst es: »so auch hat dieser Geist, von dem erkenntnisartigen Selbste umschlungen, kein Bewusstsein von dem, was aussen oder innen ist« (Bṛih. 4, 3, 21.) Hier bezeichnet die Schrift den höchsten Gott als von der verkörperten Seele verschieden. Unter dem »Geiste« muss hier die verkörperte Seele verstanden werden, weil es ihre Sache ist, »Bewusstsein« von etwas zu haben; denn nur wo die Möglichkeit besteht, ein »Bewusstsein von dem, was aussen oder innen ist«, zu haben, konnte von einem Aufhören dieser Möglichkeit [im Tiefschlafe] die Rede sein. Unter dem »erkenntnisartigen Selbste« hingegen ist der höchste Gott zu verstehen, weil nur er von der als Allwissenheit sich zeigenden Erkenntnis ewig ungeschieden ist. – Ebenso heisst es weiter in der Stelle, die vom »Auszuge« der Seele handelt: »also auch gehet dieses körperliche Selbst, von dem erkenntnisartigen Selbste belastet, knarrend« (Bṛih. 4, 3, 35); auch hier wird der höchste Gott als von der individuellen Seele verschieden bezeichnet; nämlich unter dem »körperlichen Selbste« ist die individuelle Seele als der Herr des Körpers zu verstehen, wohingegen das »erkenntnisartige Selbst« wiederum den höchsten Gott bedeutet. Somit ergiebt sich, dass »wegen der Bezeichnung als verschieden bei Tiefschlaf und Auszug«, der Zweck der ganzen Stelle in der Belehrung über den höchsten Gott besteht. Wenn hingegen behauptet wurde, dass der Zweck der Stelle vielmehr auf die körperliche Seele gerichtet sei, weil zu Anfang, Mitte und Ende Merkmale derselben vorkommen, so bemerken wir zunächst was den Anfang betrifft, dass die Worte »es ist unter den Lebensorganen der aus Erkenntnis bestehende« (Bṛih. 4, 3, 7) nicht dazu dienen sollen, die Natur der wandernden Seele darzulegen, | sondern vielmehr, nach Erwähnung der Natur der wandernden Seele, ihre Identität mit dem höchsten Brahman darzulegen; denn wenn es daselbst weiter heisst: »es ist als ob sie sänne, es ist als ob sie schwankend sich bewegte« (Bṛih. 4, 3, 7), so zeigt diese Fortsetzung deutlich, dass es sich darum handelt, die Eigenschaften der wandernden Seele[199] [als nur scheinbar] auszuschliessen. Und ganz diesem Anfange entsprechend heisst es zusammenfassend am Schlusse: »wahrlich, dieses grosse ungeborene Selbst, das ist unter den Lebensorganen jener aus Erkenntnis bestehende« u.s.w. (Bṛih. 4, 4, 22), das heisst: dasjenige, was unter den Lebensorganen als die aus Erkenntnis bestehende, wandernde Seele angesehen wird, das wahrlich ist als dieses grosse ungeborene Selbst, als der höchste Gott, von uns erkannt worden. Wer aber in dem mittleren Teile, weil darin von den Zuständen des Wachens u.s.w. gehandelt wird, eine Darlegung der Natur der wandernden Seele zu finden meint, für den wird es auch möglich sein, sich nach Osten zu bewegen und dabei nach Westen zu kommen. Denn wenn die Schrift hier der Zustände des Wachens u.s.w. gedenkt, so geschieht es ja nicht in der Absicht, das Befangensein in diesen Zuständen und das Wanderersein der Seele zu lehren, sondern vielmehr gerade umgekehrt, um zu zeigen, dass die Seele [in Wahrheit] von diesen Zuständen frei und dem Wanderersein nicht unterworfen ist. Dies ergiebt sich daraus, dass in der Stelle [nicht etwa nach den Zuständen des Wachens, Traumes, Tiefschlafes gefragt wird, sondern] Schritt für Schritt die Bitte sich wiederholt: »rede weiter von dem, was zur Erlösung dient« (Bṛih. 4, 3, 14. 15. 16), und Schritt für Schritt in Erwiderung derselben gesagt wird: »davon wird er nicht berührt; denn diesem Geiste haftet nichts an« (Bṛih. 4, 3, 15. 16. vgl. 18), wie es denn auch weiterhin heisst: »dann ist Unberührtheit vom Guten und Unberührtheit vom Bösen, dann hat er überwunden alle | Qualen seines Herzens« (Bṛih. 4, 3, 22.) Hieraus ergiebt sich, dass der Zweck der Stelle darin besteht, die Natur der nicht [d.h. nur scheinbar] der Wanderung unterworfenen Seele darzulegen.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 198-200.
Lizenz:
Kategorien: