[136] 8. bhûmâ, samprasâdâd adhi upadeçât
die Unbeschränktheit, wegen der Höherstellung über die Vollberuhigung.

Die Schrift sagt: »Die Unbeschränktheit (bhûman) aber muss man suchen zu erkennen. – Ja, die Unbeschränktheit, Verehrungswürdiger, möchte ich erkennen. – Wenn einer [ausser sich] kein anderes sieht, kein anderes hört, kein anderes erkennt, das ist die Unbeschränktheit; wenn er hingegen ein anderes sieht, ein anderes hört, ein anderes erkennt, | das ist die Beschränktheit (alpam)« u.s.w. (Chând. 7, 23-24.) – Hier erhebt sich die Frage, ob unter der Unbeschränktheit der Prâṇa (das Leben) zu verstehen ist, oder der höchste Âtman. – ›Woher diese Frage?‹ – Nun, was zunächst das Wort »Unbeschränktheit«, bhûman, betrifft, so bezeichnet dasselbe einen Zustand der Grösse; da nach der Smṛiti-Regel: »bahor lopo bhû ca bahoḥ« – »bei bahu [mit -iman] Ausfall [des i] und bhû statt bahu« (Pâṇini 6, 4, 158), das Wort bhûman auf ein Zustand-Suffix endigt. Welcher Art ist nun dieser Zustand der Grösse? Das ist näher zu bestimmen. Sofern in der Nähe das Wort vorkommt: »Der Prâna, fürwahr, ist grösser (bhûyân) als die Hoffnung« (Chând. 7, 15, 1), kann es scheinen, als sei unter dem Bhûman der Prâṇa zu verstehen. Anderseits jedoch kann es scheinen, wenn man die Aufstellung des Themas in den Eingangsworten erwägt: »denn ich habe von solchen, die dir gleichen, gehört, dass, wer den Âtman kennt, über den Kummer hinaus ist; ich aber, o Herr, bin bekümmert; führe du mich hinaus über den Kummer« (Chând. 7, 1, 3), dass der Bhûman vielmehr den höchsten[136] Âtman bedeutet. Welches soll man nun davon annehmen und welches aufgeben? Das ist hier die Frage.

›Angenommen also, der Bhûman bedeute den Prâṇa. Warum? Weil über ihn hinaus die Kette von Fragen und | Antworten‹ [welche Chând. 7, 1-15, jedesmal nach dem, was grösser sei, forschend, vom Namen zu Rede, Manas, Entschluss, Gedanken, Meditation, Erkenntnis, Kraft, Nahrung, Wasser, Glut, Äther, Erinnerung, Hoffnung und endlich zum Prâṇa weiter schreitet] ›nicht weiter fortgeführt wird. Denn während es hiess: »Giebt es, o Herr, ein Grösseres als den Namen?« – »Ja, die Rede ist grösser als der Name«, und ebenso: »Giebt es, o Herr, ein Grösseres als die Rede?« – »Ja, das Manas ist grösser als die Rede«, und in dieser Weise die Reihe der Fragen und Antworten vom Namen an bis zum Prâṇa hin immer weiter fortschreitet, so findet sich über den Prâṇa hinaus weiterhin keine derartige Frage und Antwort mehr, so als wenn es hiesse: »Giebt es, o Herr, ein Grösseres als den Prâṇa« und geantwortet würde: »Ja, dies und das ist grösser als der Prâṇa.« Vielmehr, nachdem der Prâṇa für grösser als [alle Principien] vom Namen an bis zur Hoffnung hin in den Worten: »Ja, der Prâṇa ist grösser als die Hoffnung« u.s.w. (Chând. 7, 15, 1) ausführlich erklärt worden, und nachdem demjenigen, der den Prâṇa kenne, das Prädikat eines Absprechers (ativâdin) zuerkannt worden in den Worten: »[Fürwahr, wer also sieht und denkt und erkennt, der ist ein Absprecher; und wenn man zu ihm sagt:] du bist ein Absprecher! so soll er es zugeben und nicht leugnen« (Chând. 7, 15, 4), – so heisst es weiter: »Der aber nur ist der rechte Absprecher, welcher durch die Wahrheit abspricht« (Chând. 7, 16); hier wird das Absprechersein dessen, der dem Prâṇa huldige, wieder aufgenommen und, ohne dass der Prâṇa fallen gelassen würde, schreitet die Rede weiter fort durch die Reihenfolge von Wahrheit u.s.w. bis zum Bhûman hin [Wahrheit, Erkenntnis, Verstand, Glaube, Gewissheit, That, Lust, Bhûman, Chând. 7, 16-24], woraus folgt, dass die Schrift den Prâṇa eben für den Bhûman hält.‹ – Aber wenn der Prâṇa für den Bhûman erklärt wird, wie soll man dann das Wort verstehen, welches als Charakter des Bhûman angiebt: »wenn einer [ausser sich] kein anderes sieht« u.s.w.? – ›Hierauf erwidern wir: weil im Zustande des Tiefschlafes, wo die Sinnesorgane in den Prâṇa eingehen, keine Thätigkeit des Sehens u.s.w. stattfindet, | deswegen kann man die in den Worten »wenn einer kein anderes sieht« liegende Charakterisierung auch auf den Prâṇa beziehen, und so sagt auch die Schrift, nachdem sie in den Worten »er sieht nicht, er hört nicht« u.s.w. (Praçna 4, 2) den Zustand des Tiefschlafes als einen solchen geschildert hat, in welchem die Thätigkeit aller Organe zur Ruhe kommt, weiter: »dann halten nur die Wachtfeuer des Prâṇa in dieser Stadt Wacht« (Praçna 4, 3.)[137] Indem diese Stelle eben in jenem Zustande [des Tiefschlafes] dem fünffachen Prâṇa ein Wachen zuschreibt, lehrt sie, dass der Prâṇa im Tiefschlafe die Oberhand hat. Und auch die Lust, welche dem Bhûman in den Worten: »fürwahr der Bhûman ist die Lust« (Chând. 7, 23) beigelegt wird, lässt sich damit wohl vereinigen; denn auch die Stelle: »daselbst siehet dieser Gott keine Träume, dann herrscht in diesem Leibe ganz die Lust« (Praçna 4, 6), lehrt eben für den Zustand des Tiefschlafes das Vorherrschen der Lust. Ferner auch die Stelle: »der Bhûman ist das Unsterbliche« (Chând. 7, 24, 1) spricht nicht gegen den Prâṇa; denn die Schrift sagt: »der Prâṇa fürwahr ist das Unsterbliche« (vgl. Kaush. 3, 2.)‹ – Aber wie lässt sich mit der Auffassung des Bhûman als Prâṇa die Stelle in Einklang bringen: »wer den Âtman kennt, ist über den Kummer hinaus« (Chând. 7, 1, 3), in welcher als Motiv des Vorhabens das Verlangen, den Âtman zu erkennen, bezeichnet wird? – ›Dadurch, so antworten wir, dass hier unter dem Âtman eben der Prâṇa verstanden wird. Dem entspricht es, dass die Stelle: »der Prâṇa ist Vater, der Prâṇa Mutter, der Prâṇa Bruder, der Prâṇa Schwester, der Prâṇa Lehrer und Brahmane« (Chând. 7, 15, 1) den Prâṇa für den Âtman (die Seele) in allen Wesen erklärt, so wie auch, dass es weiter heisst: »wie die Speichen eingefügt sind in die Nabe, so ist alles in diesen Prâṇa eingefügt« (Chând. 7, 15, 1.) Aus dieser Stelle von der Allbeseelung und aus dem Gleichnisse von den Speichen und der Nabe erklärt sich auch, warum dem Prâṇa die den Bhûman charakterisierende unermessliche Grösse beigelegt wird. Folglich ist der Bhûman der Prâṇa; dieses ist unsere Annahme.‹

Hierauf erwidern wir wie folgt. Nur der höchste Âtman und nicht der Prâṇa kann hier unter dem Bhûman verstanden werden. | Warum? »Wegen der Höherstellung über die Vollberuhigung«. Die »Vollberuhigung« (samprasâda) bedeutet hier den Zustand des Tiefschlafes, wie sich schon aus der Worterklärung, sofern man in diesem vollständig zur Kühe kommt (samyak prasîdati), ergiebt, sowie auch daraus, dass im Bṛihadâraṇyakam die Vollberuhigung (samprasâda) mit den Zuständen des Träumens und des Wachens zusammen erwähnt wird (Bṛih. 4, 3, 15.) Und weil nun in diesem Zustande der Vollberuhigung der Prâṇa wach bleibt, darum ist hier [in den Worten des Sûtram] unter der Vollberuhigung der Prâṇa zu verstehen, und der Sinn der Worte ist: »weil der Bhûman höher gestellt wird als der Prâṇa.« Wäre nun der Prâṇa auch wieder unter dem Bhûman zu verstehen, so würde er höher gestellt werden als er selbst, was widersinnig ist; denn es heisst ja nicht im Vorherigen: »der Name ist grösser als der Name«, so dass der Name höher als er selbst gestellt würde, sondern es wird vielmehr von dem Namen auf ein anderes [als das Grössere] hingewiesen, nämlich auf die Rede, denn es heisst: »ja, die Rede ist grösser als[138] der Name«, und in derselben Weise wird auch von der Rede u.s.w. bis zum Prâṇa hin das Nächstfolgende jedesmal als das Höhere hingestellt; in eben derselben Weise aber wird der Bhûman höher gestellt als der Prâṇa, und folglich muss er von dem Prâṇa verschieden sein. – ›Aber hier kommt doch nicht mehr weiter die Frage vor, »giebt es, o Herr, ein Grösseres als den Prâṇa«, und ebensowenig die Antwort, »ja, dies und das ist grösser als der Prâṇa«; wie kann man also behaupten, dass der Bhûman höher gestellt werde als der Prâṇa? Auch wird ja das auf den Prâṇa bezügliche Absprechersein weiterhin wieder aufgenommen, denn es heisst: »der aber nur ist der rechte Absprecher, welcher durch die Wahrheit abspricht«, so dass | eine Höherstellung über den Prâṇa hinaus doch überhaupt gar nicht stattfindet!‹ – Hierauf erwidern wir: zunächst ist es nicht richtig, dass jene Herbeiziehung des Absprecherseins so geschieht, dass dasselbe sich auf den Prâṇa bezöge; vielmehr wird ein Unterschied [von dem Absprechersein auf Grund der Erkenntnis des Prâṇa] hervorgehoben in den Worten »welcher durch die Wahrheit abspricht.« – ›Aber kann sich nicht auch jene Hervorhebung des Unterschiedes auf den Prâṇa beziehen? Nämlich, so wie, wenn man sagt: »der ist der rechte Opferer, welcher die Wahrheit spricht«, hiermit nicht gemeint ist, dass jeder, welcher die Wahrheit spricht, auch ein Opferer sei, sondern nur derjenige, welcher wirklich opfert, das Sprechen der Wahrheit aber als ein Merkmal des Opferers hervorgehoben wird, ebenso liegt auch in den Worten: »der aber nur ist der rechte Absprecher, welcher durch die Wahrheit abspricht«, nicht, dass jeder, der die Wahrheit spricht, ein Absprecher sei, sondern nur dass derjenige es sei, welcher die in Rede stehende Erkenntnis des Prâṇa besitzt, wobei als Merkmal dessen, der den Prâṇa kennt, das Sprechen der Wahrheit angegeben wird.‹ – Diese Auffassung lassen wir nicht zu, weil sie vom Schriftsinne abweicht; denn die Schrift fasst hier das Absprechersein so auf, dass dasselbe durch das Sprechen der Wahrheit erlangt wird, indem sie erklärt, dass derjenige der rechte Absprecher sei, welcher durch die Wahrheit abspreche. Hierbei ist von der Erkenntnis des Prâṇa gar keine Rede. Vielmehr würde es nur um des Vorhergehenden willen geschehen, wenn man die Erkenntnis des Prâṇa damit in Verbindung brächte. Dann aber würde dem Vorhergehenden zu Liebe vom Schriftsinne abgegangen werden. Ausserdem würde dann auch das Wörtchen »aber« nicht passen, welches ein Abgehen von dem Vorhergehenden anzeigt; denn wenn es heisst: »der aber nur ist der rechte Absprecher«, und weiter: »die Wahrheit aber muss man somit erforschen« (Chând. 7, 16, 1), so wird in diesen Worten ein neuer Anlauf genommen, und dies beweist, dass von einer neuen Sache | die Rede sein soll. Es ist damit ähnlich, wie wenn es sich z.B. um die Verherrlichung eines solchen handelt,[139] der einen der vier Veden kennt, und dann weiter gesagt wird: »der aber ist ein grosser Brahmane, welcher alle vier Veden kennt«; hier handelt es sich nicht mehr um die Kenner eines Veda, sondern um etwas Neues, nämlich um die Verherrlichung desjenigen, welcher alle vier Veden kennt. Auch braucht der Übergang zu einer neuen Sache hier nicht notwendig in der Form von Frage und Antwort stattzufinden; vielmehr kann ein solcher Übergang zu etwas Neuem auch dadurch bewirkt werden, dass mit dem Vorhergehenden kein Zusammenhang stattfindet; so hier, wo Nârada, nachdem er die bei dem Prâṇa abschliessenden Anpreisungen angehört hat, stille schweigt, und nun Sanatkumâra ihn aus freien Stücken weiter fördert. Weil nämlich das Absprechersein durch die Erkenntnis des Prâṇa, welcher in den Bereich der Unwahrheit der Umwandlungen gehört, kein wahres Absprechersein ist, darum heisst es weiter: »der aber nur ist der rechte Absprecher, welcher durch die Wahrheit abspricht« (Chând. 7, 16, 1.) Die Wahrheit bedeutet hier das höhere Brahman, weil es die höchste Realität ist, und weil eine andere Schrift sagt: »Wahrheit, Erkenntnis, Unendlichkeit ist das Brahman« (Taitt. 2, 1.) Hierdurch angeregt sagt Nârada: »ich möchte, o Herr, durch die Wahrheit absprechen«, und darauf hin wird er durch eine Reihe von Mittelgliedern, wie Erkenntnis u.s.w., auf den Bhûman hingeführt. Also die Wahrheit, welche höher steht als der Prâṇa, | und deren Mitteilung hier verheissen wird, diese eben liegt in dem Bhûman; dieses ergiebt sich als der Sinn der Schrift. Der Bhûman wird somit höher gestellt als der Prâṇa, ist folglich von ihm verschieden und muss als der höchste Âtman aufgefasst werden. Hierzu stimmt es auch, dass zu Anfang als Motiv des Vorhabens der Wunsch angegeben wurde, den Âtman zu erkennen. Dass hierbei unter dem Âtman der Prâṇa zu verstehen sei [wie p. 236, 11 behauptet wurde], lässt sich nicht annehmen; denn der Prâṇa ist nicht der Âtman im eigentlichen Sinne. Hierzu kommt, dass das Aufhören des Kummers nicht anders als durch die Erkenntnis des höchsten Âtman möglich ist; denn eine andere Schriftstelle sagt: »es ist kein anderer Weg zum Gehen« (Çvet. 6, 15.) Es hiess aber zu Eingang unserer Stelle: »führe du mich, o Herr, hinaus über den Kummer« (Chând. 7, 1, 3), und zum Schlusse heisst es: »so zeigte ihm, dessen Verdunkelung gewichen war, das Ufer jenseits der Finsternis der heilige Sanatkumâra« (Chând. 7, 26, 2.) Unter der Finsternis ist hier das Nichtwissen zu verstehen, welches die Ursache des Kummers u.s.w. ist. Wäre hingegen der Prâṇa der letzte Zweck der Anpreisung, so könnte ferner auch nicht die Abhängigkeit des Prâṇa von einem andern hervorgehoben werden; nun aber sagt das Brâhmaṇam (Chând. 7, 26, 1): »von dem Âtman rührt her der Prâṇa.« Wollte endlich jemand behaupten, dass zwar am Schlusse des Abschnittes der höchste Âtman gemeint sein[140] möge, dass aber unter dem Bhûman noch der Prâṇa verstanden werden müsse, so ist das nicht zuzugeben, weil von den Worten an: »aber worauf gründet denn er sich, o Herr? – Er gründet sich auf seine eigne Majestät« (Chând. 7, 24, 1) bis zum Ende des Abschnittes immerfort nur von dem Bhûman die Rede ist. Auch was die [von dem Gegner p. 236, 16 für den Prâṇa geltend gemachte] unermessliche Grösse der dem Bhûman beigelegten Gestalt betrifft, so passt dieselbe noch viel besser auf den höchsten Âtman, sofern dieser die Ursache von allem ist.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 136-141.
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