[77] 28. prâṇas, tathâ anugamât
der Prâṇa (Leben, Odem), weil man dies ersieht.

Es findet sich in der Kaushîtaki-brâhmaṇa-upanishad eine Legende von Indra und Pratardana, welche anfängt mit den Worten: »Pratardana, fürwahr, der Sohn des Divodâsa, ging ein zu der lieben Wohnung des Indra durch Kampf und durch Tapferkeit« (Kaush. 3, 1.) Im Verlaufe dieser Erzählung heisst es: »Er [Indra] sprach zu ihm: Ich bin der Odem (prâṇa), bin das Erkenntnis-Selbst (prajńâ-âtman); als dieses, als unsterbliches Leben verehre[77] mich« (Kaush. 3, 2); und weiterhin: »aber fürwahr das Leben (prâṇa) nur, das Erkenntnis-Selbst umspannt diesen Leib und richtet ihn auf« (Kaush. 3, 3), und sodann: »nicht die Rede soll man erforschen, sondern erkennen den, der da redet« (Kaush. 3, 8), und zum Schlusse: »dieser Prâṇa allein ist das Erkenntnis-Selbst, ist die Wonne; er altert nicht und stirbt nicht« u.s.w. (Kaush. 3, 8.) – | Hier erhebt sich die Frage, ob an diesen Stellen mit dem Worte »Prâṇa« bloss der Wind bezeichnet wird oder die Seele der Gottheit [Indra] oder die individuelle Seele oder das höchste Brahman? – ›Aber haben wir nicht schon in dem Sűtram »aus eben dem Grunde der Prâna« (1, 1, 23) dargelegt, dass das Wort Prâṇa sich auf Brahman beziehen kann, und findet sich nicht auch hier wieder ein Merkmal des Brahman, wenn es heisst: »er ist die Wonne, er altert nicht und stirbt nicht?« Woher also jetzt wieder der Zweifel?‹ – Darum, so antworten wir, weil an unserer Stelle verschiedenartige Merkmale vorliegen. Es findet sich nämlich an derselben nicht nur ein Merkmal des Brahman, sondern auch noch andere Merkmale. Denn wenn Indra sagt »so erkenne mich«, so ist das ein Merkmal dafür, dass nur von einer Götterseele die Rede ist; und wenn es heisst »er umspannt diesen Leib und richtet ihn auf«, so liegt hierin ein Merkmal des [Mukhya] Prâṇa; endlich heisst es auch wieder: »nicht die Rede soll man erforschen, sondern erkennen den, der da redet« u.s.w.; dieses ist ein Merkmal der individuellen Seele. Somit ist der Zweifel berechtigt.

Angenommen also, ›der »Prâṇa« sei der gewöhnliche Wind‹. – Darauf antworten wir, dass man unter dem Worte Prâṇa das Brahman verstehen muss; warum? »weil man dies ersieht«; d.h. weil, wenn die Stelle nach dem, was vorhergeht und nachfolgt, in Betracht gezogen wird, der Zusammenhang als auf Brahman abzweckend ersichtlich ist. Zunächst nämlich sagt Indra am Anfange zu Pratardana: »wähle ein Geschenk«; | und nachdem Pratardana das höchste Ziel des Menschen als das vorzüglichste Geschenk bezeichnet hat, fügt er hinzu: »wähle du für mich was du als das Beste für den Menschen erachtest.« Hierauf wird ihm als das Beste der Prâṇa gelehrt; wie sollte er also nicht der höchste Âtman sein? Denn die Erlangung des Besten ist nicht anders möglich als durch die Erkenntnis des höchsten Âtman; dieses beweisen Schriftstellen wie (Çvet. 3, 8):


»Wer diesen kennt, geht zur Unsterblichkeit;

Nicht giebt es einen andern Weg zum Gehen«;


auch heisst es (Kaush. 3, 1): »wer mich erkennt, dessen Stätte [im Himmel] wird durch keinerlei Werk geschmälert, nicht durch Diebstahl, nicht durch Tötung der Leibesfrucht«; dieses passt[78] nur, wenn man es von Brahman versteht, indem, wie bekannt, nach Erkenntnis des Brahman alle Werke zu nichte werden, wie denn die Schrift z.B. sagt (Muṇḍ. 2, 2, 8):


»Zu nichte werden dessen Werke,

Der jenes Höchst' und Tiefste schaut.«


Auch dass er das Erkenntnis-Selbst ist, passt nur auf Brahman; denn von dem ungeistigen Winde kann man nicht sagen, er sei das Erkenntnis-Selbst. Und ebenso, wenn es am Schlusse heisst »er ist die Wonne, er altert nicht und stirbt nicht«, so passen diese Bezeichnungen als Wonne u.s.w. im vollen Sinne nur auf Brahman allein; ebenso wie das Folgende: »er wird nicht höher durch gute Werke und nicht geringer durch böse [d.h. er enthält sich aller Werke]; denn er allein lässt das gute Werke thun den, welchen er aus diesen Welten emporführen will, und er allein lässt das böse Werke thun den, welchen er aus diesen Welten abwärts führen will«, und »er ist der Welten-Hüter, er ist der Welt-Gebieter, er ist der Welten-Herr« (Kaush. 3, 8.) Alles dieses kann man verstehen, wenn man es auf das höchste Brahman, nicht aber, wenn man es auf den Mukhya Prâṇa bezieht. Somit ist der Prâṇa hier das Brahman.

Quelle:
Die Sűtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 77-79.
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