Fünftes Adhikaraṇam.

[33] | Wir haben im Bisherigen auseinandergesetzt, wie die Vedântaworte, indem sie den Zweck verfolgen, die Seele als das Brahman zu lehren, und vermöge dieses Zweckes in der Auffassung der Seele als das Brahman übereinstimmen, bei der Darlegung des Brahman stehen bleiben, ohne dasselbe weiter zu irgend einer Wirkung in Anwendung zu bringen. Das Brahman aber ist, wie wir sagten, die allwissende und allmächtige Ursache für Ursprung,[33] Bestand und Vergang der Welt. Die Sâ khya's hingegen und andre, in der Meinung, dass [die Weltursache, als] ein wirklich vorhandener Gegenstand, sich auch durch andre [d.h. weltliche] Erkenntnismittel | begreifen lassen müsse, geraten bei ihren Schlüssen auf andre Weltursachen, wie z.B. auf die Urmaterie (pradhânam) u.s.w.; und in diesem Sinne legen sie dann auch die Vedântaworte aus. ›Auch in allen Vedântaworten aber‹, so meinen die Sâ khya's, ›welche von der Weltschöpfung handelten, werde nur mittels Schlussfolgerung aus der Wirkung auf die Ursache geschlossen, und was die Verbindungen der Urmaterie mit den Purusha's [individuellen Seelen] betreffe, so würden dieselben [ganz ohne Offenbarung] lediglich durch Schlussfolgerung erkannt‹. – Die Anhänger des Kaṇâda hingegen schliessen auf Grund der nämlichen Schrifttexte auf einen Gott (îçvara) als die bewirkende Ursache und auf die Atome als die inhärierende Ursache. Und so giebt es noch andre Anhänger der Reflexion, welche sich auf den Schein von Schriftworten und den Schein von Argumenten stützen und im gegenwärtigen Falle als die Vertreter der zu bekämpfenden Meinung betrachtet werden können. Darum werden von dem der Wortbedeutungen, Schrifttexte und Argumente kundigen Lehrer, um zu beweisen, dass die Vedântatexte als Zweck die Erkenntnis des Brahman haben, jene Aufstellungen von scheinbaren Schriftzeugnissen und Argumenten als gegnerische Meinung vorangestellt und widerlegt.


Die Sâ khya's also, indem sie als die Ursache der Welt die mit den drei Guṇa's (Qualitäten) ausgestattete, ungeistige Urmaterie (pradhânam) | ansehen, sagen wie folgt: ›Die Vedântatexte, von denen du behauptetest, dass sie für das allwissende und allmächtige Brahman als Ursache der Welt Zeugnis ablegten, die lassen sich auch für die Ansicht, dass die Urmaterie die Ursache der Welt sei, verwenden. Eine Allmacht zunächst lässt sich auch von der Urmaterie hinsichtlich dessen, was eine Umwandlung derselben ist, annehmen; und ebenso lässt sich die Allwissenheit aufrecht halten. – Du willst wissen, wie? – Nun, was du unter Wissen verstehst, das ist nur eine Beschaffenheit des Sattvam [einer der drei Guṇa's der Urmaterie], denn die Smṛiti sagt: »das Sattvam bringt hervor das Wissen« (Bhag. G. 14, 17.) Und mit dieser Beschaffenheit des Sattvam, dem Wissen als Organ des Wirkens ausgerüstet, werden gewisse Purusha's allwissend, nämlich die bekannten Yogin's. Denn die Allwissenheit besteht nur in einem keiner Steigerung mehr fähigen Grade des Sattvam. Und von einem blossen [der Urmaterie und ihrer Guṇa's entbehrenden] Purusha, welcher keine Organe des Wirkens besitzt und aus blosser Perception besteht, kann man doch nicht behaupten, dass er allwissend sei, oder auch nur, dass er irgend etwas wisse.[34] Die Urmaterie hingegen enthält, vermöge ihres Bestehens aus den drei Guṇa's, auch das die Ursache alles Erkennens bildende Sattvam im Urzustande in sich, und so kann auch der Urmaterie selbst, obwohl sie ein Ungeistiges ist, doch eine Allwissenheit in uneigentlichem Sinne von den Vedântatexten zugeschrieben werden. Und auch du, der du ein allwissendes Brahman annimmst, kannst die ihm zugeschriebene Allwissenheit doch nur dahin verstehen, dass sie in einer blossen Fähigkeit, alles wissen zu können, bestehe; denn das Brahman kann doch nicht so gedacht werden, dass es beständig ein auf alles bezügliches Erkennen thatsächlich ausübte. Denn in diesem Falle, bei einer beständigen Ausübung des Erkennens, | würde die Freiheit des Brahman in Betreff der Thätigkeit des Erkennens aufgehoben werden. Gebt ihr aber zu, dass die Ausübung nicht beständig stattfinde, nun so wird bei einem Ruhen der Thätigkeit des Erkennens auch das Brahman ruhen; dann aber folgt, dass seine Allwissenheit nur in einer Fähigkeit, alles wissen zu können, besteht. – Hierzu kommt, dass, nach deiner eignen Annahme, das Brahman vor der Weltschöpfung von allem dem, was zu einem Thun erforderlich ist, entblösst ist. Und dass auch ohne die Mittel des Erkennens, ohne Leib, Sinnesorgane u.s.w., von irgend jemandem eine Erkenntnis zu Stande gebracht würde, das ist undenkbar. – Endlich ist zu bemerken, dass wohl die Urmaterie, weil sie ihrer Natur nach vielheitlich und somit, gleichwie Thon und dergleichen, einer Umwandlung fähig ist, zur Weltursache sich eignet, nicht aber das unzusammengesetzte und seinem Wesen nach einheitliche Brahman.‹

Gegen diese Behauptungen [der Sâ khya's] ist das folgende Sûtram gerichtet:

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 33-35.
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