[60] 20. antas, tad-dharma-upadeçât
der im Innern, wegen Aufzeigung seiner Eigenschaften.

Ein heiliger Text sagt: »aber der goldene Mann (purusha), welcher im Innern der Sonne gesehen wird, mit goldenem Bart und goldenem Haar, bis in die Nagelspitzen ganz von Golde, – seine Augen sind wie die Blüten des Kapyâsa-Lotus, sein Name ist ›Hoch‹ (ud), denn | hoch über allem Übel ist er; hoch hebt sich über alles Übel, wer solches weiss.« So heisst es in kosmologischem Sinne; darauf ebenso in psychologischem Sinne: »aber der Mann, welcher im Innern des Auges gesehen wird« u.s.w. (Chând. 1, 6-7.) Es erhebt sich die Frage, ob hier irgend eine, zufolge eines Übermasses von Wissen und Werken erhobene, wandernde [individuelle] Seele in der Sonnenscheibe und im Auge[60] zum Zwecke der Verehrung hingestellt wird, oder vielmehr der ewig vollkommene, höchste Gott?

Angenommen also, ›es sei von einem wandernden [individuellen] Âtman hier die Rede. Warum? weil von ihm gesagt wird, dass er eine Gestalt habe. Denn was den Purusha (Mann, Geist) in der Sonne betrifft, so wurden die Worte, die ihm eine Gestalt »mit goldenem Barte« u.s.w., beilegen, bereits erwähnt; und weiter wird auch auf den Purusha im Auge ebendieselbe Gestalt mittels Verweisung bezogen, indem es heisst: »die Gestalt, welche jener hat, die hat auch dieser« (Chând. 1, 7, 5.) Dass aber der höchste Gott eine Gestalt besitze, kann man nicht behaupten, weil die Schrift sagt, er sei: »unhörbar, unberührbar, ungestaltet, unvergänglich« (Kâth. 3, 15.) Ferner deswegen, weil [in der fraglichen Stelle] von einem Standorte die Rede ist; denn es heisst, der Purusha sei »im Innern der Sonne«, »im Innern des Auges«. Dem höchsten Gotte aber kann als dem Standortlosen, nur auf seine eigne Majestät Gegründeten und Alldurchdringenden ein Standort nicht zugeschrieben werden, denn die Schrift sagt: »worauf, o Herr, gründet er sich? – Er gründet sich auf seine eigne Majestät« (Chând. 7, 24, 1), und in einer andern Stelle heisst es von ihm, er sei »dem Äther gleich allgegenwärtig ewig« (vgl. p. 172, 5.) Ferner [kann in unserm Texte der Mann in Sonne und Auge nicht der höchste Gott sein], weil von einer Grenze seiner Herrschaft die Rede ist, denn es heisst: | »die Welten, welche von jener [Sonne] aufwärts liegen, über die herrscht er und über die Wünsche der Götter« (Chând. 1, 6, 8.) Diese Worte bezeichnen eine Grenze der Herrschaft des Sonnen-Purusha, sowie weiter eine solche für den Purusha im Auge in den Worten liegt: »die Welten, welche von jener abwärts liegen, über die herrscht er und über die Wünsche der Menschen« (Chând. 1, 7, 6.) Von dem höchsten Gotte aber lässt sich nicht annehmen, dass seine Herrschaft eine beschränkte sei; denn die Schrift sagt von ihm ganz allgemein: »er ist der Herr des Weltalls, er ist der Gebieter der Wesen, er ist der Hüter der Wesen; er ist die Brücke, welche diese Welten auseinanderhält, dass sie nicht verfliessen« (Bṛih. 4, 4, 22.) Folglich kann der Purusha im Innern des Auges und der Sonne nicht der höchste Gott sein.‹

Hierauf antworten wir: »der im Innern, wegen Aufzeigung seiner Eigenschaften«; d.h. der Purusha, der im Innern der Sonne und im Innern des Auges von der Schrift angenommen wird, muss der höchste Gott und nicht eine wandernde Seele sein. Warum? »wegen Aufzeigung seiner Eigenschaften«; nämlich seine, des höchsten Gottes, Eigenschaften werden hier aufgezeigt. So, wenn es heisst: »sein Name ist ›Hoch‹«, und wenn weiterhin dieser Name des Sonnen-Purusha in den Worten: »denn hoch über allem Übel ist er« aus seiner Erhabenheit über alles Übel abgeleitet[61] wird. Und ebendieser so erklärte Name wird dann weiter auch auf den Purusha im Auge überwiesen durch die Worte »jenes Name ist sein Name«. Die Erhabenheit über alles Übel aber wird von der Schrift nur dem höchsten Gotte zuerkannt, indem sie z.B. sagt: »der Âtman, der sündlose« u.s.w. (Chând. 8, 7 1.) | Weiter wird von dem Purusha im Auge mit den Worten: »er ist die Ric, er das Sâman, er das Preislied, er der Opferspruch, er das Gebet« (Chând. 1, 7, 5), versichert, dass er das Selbst von Ric, Sâman u.s.w. sei, was auf den höchsten Gott zutrifft, sofern er die allgemeine Ursache und das Selbst in allem ist. Und nachdem Ric und Sâman in kosmologischer Beziehung für das Selbst der Erde und des Feuers und in psychologischer Beziehung für das Selbst der Rede und des Odems erklärt worden sind, so heisst es weiter von dem kosmologischen Purusha: »seine Gelenke [oder: Gesänge? geshnau] sind Ric und Sâman« (Chând. 1, 6, 8); und dann ebenso von dem psychologischen: »jenes Gelenke sind auch seine Gelenke« (Chând. 1, 7, 5); und dies ist nur möglich, sofern er das Selbst von allem ist. Ferner in den Worten: »darum die, welche hier zur Laute singen, die besingen ihn; deswegen wird ihnen Gut zu teil« (Chând. 1, 7, 6), liegt ausgesprochen, dass auch in den weltlichen Gesängen immer nur jener [Purusha] besungen wird; auch das passt zu der Auffassung desselben als den höchsten Gott, von dem die Bhagavad-Gîtâḥ sagen (Bhag. G. 10, 41):


»Alles, was kräftig ist und schön und üppig,

Das, wisse, ist ein Teil von meiner Kraft.«


| Auch die ihm zugeschriebene, schrankenlose Willkür-Herrschaft über die Welt weist auf den höchsten Gott hin. Wenn aber behauptet wurde, dass die Erwähnung der Gestalt in den Worten »mit goldenem Bart« u.s.w. auf den höchsten Gott nicht passe, so erwidern wir, dass auch bei dem höchsten Gotte eine auf Wunsch zur Begnadigung eines Verehrers angenommene Scheingestalt (mâyâmayam râpam) wohl denkbar ist; denn die Smṛiti sagt (Mahâbhâratam 12, 12909):


»Ein Schein ist es, von mir bewirkt, dass du mich schaust, o Nârada,

In aller Wesen Eigenschaft; sonst wär' ich nicht zu sehen ja.«


Ferner ist zu bemerken, dass da, wo die Natur (râpam) des höchsten Gottes unter Fernhaltung aller Unterschiede gelehrt wird, der Schriftkanon Ausdrücke gebraucht wie: »nicht hörbar, nicht fühlbar, nicht gestaltet, unvergänglich« (Kâṭh. 3, 15.) Anderseits aber kann auch der höchste Gott, weil er von allem die Ursache ist, zum Zwecke der Verehrung vorgestellt werden als charakterisiert[62] durch gewisse Qualitäten der Umwandlung [der Schöpfung, die eine Umwandlung von ihm ist], z.B. wenn es heisst, er sei »allwirkend, allwünschend, allriechend, allschmeckend« (Chând. 3, 14, 2), und ebenso wird es mit seiner Bezeichnung als der Mann »mit goldenem Barte« stehen. Wenn weiter behauptet wurde, dass der höchste Gott nicht gemeint sein könne, weil von einem bestimmten Standorte die Rede sei, so ist zu bemerken, dass auch dem nur in seiner eignen Majestät stehenden höchsten Gotte zum Zwecke der Verehrung ein bestimmter Standort wohl zugeschrieben werden kann, weil Brahman wie der Raum allgegenwärtig ist und daher als das innere Selbst jedes Wesens aufgefasst werden kann. Auch die Erwähnung der Grenzen seiner Herrschaft geschieht nur mit Rücksicht auf die Unterscheidung eines kosmischen und eines psychischen Gebietes, wie sie hier zum Zwecke der Verehrung aufgestellt wird. Somit steht fest, dass es der höchste Gott ist, welcher hier als »der im Innern« des Auges und der Sonne [wohnende Purusha] aufgewiesen wird.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 60-63.
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