[10] 2. janma-âdi asya yata', iti
woraus Ursprung u.s.w. dieses [Weltalls] ist.

Janman, der Ursprung, der Anfang. Das Bahuvrîhi-Compositum [janma-âdi, Ursprung u.s.w.], dient um die Beschaffenheiten dessen zu kennzeichnen, was unter dem Worte asya [dieses Weltalls] zu verstehen ist; der Sinn des Compositums ist: »Ursprung, | Bestand und Vergang.« Dass der Ursprung den Anfang macht, folgt aus der Autorität der Schrift und aus der Natur der Sache. Aus der Autorität der Schrift; denn es heisst: »dasjenige, fürwahr, woraus diese Wesen entspringen, [wodurch sie, entsprungen, leben, und worein sie dahinscheidend wieder eingehen]« (Taitt. 3, 1.) In dieser Stelle wird für Ursprung, Bestand und Vergang eine bestimmte Reihenfolge gelehrt. Weiter folgt dasselbe auch aus der Natur der Sache: denn ein Ding kann nur bestehen und vergehen, sofern es [vorher] durch den Ursprung Wesenheit empfangen hat. Das Wort asya »dieses [Weltalls]« weist, sofern es ein Pronomen demonstrativum ist, auf einen in unmittelbarer Wahrnehmung u.s.w. vorliegenden Eigenschaftsträger hin; | und sofern es im Genitiv steht, besagt es, dass janma-âdi »das Entspringen u.s.w.« als Eigenschaften mit ihm zu verbinden sind.

[10] Yata', iti (dasjenige woraus) weist auf eine Ursache hin und ist so zu ergänzen: die Ursache, aus welcher Ursprung, Bestand und Vergang dieser in Namen und Formen ausgebreiteten, viele Handelnde und Geniessende beschliessenden, die nach Raum, Zeit und Ursache speciell bestimmte Frucht der Werke enthaltenden, in einer auch für den Gedanken unfassbaren Anordnung gestalteten Welt [herrührt], – diese allwissende und allmächtige Ursache ist das Brahman. Ursprung, Bestand und Untergang werden hier erwähnt, sofern alle andren Wandlungen des Seins | in diesen dreien inbegriffen sind. Wollte man hier hingegen die von Yâska (p. 31, 15 ed. Roth) aufgestellten [Phasen der Existenz]: »er entsteht, ist«, u.s.w. [»wächst, wandelt sich, schwindet, vergeht«] verstehen, so könnte, da diese auch während des Bestehens der Welt wahrgenommen werden, dadurch Ursprung, Bestand und Vergang der Welt aus der Wurzelursache nicht ausgedrückt zu sein scheinen; um diesen Schein zu vermeiden, werden diejenigen [Phasen] erwähnt, welche besagen, dass, so wie der Ursprung aus dem Brahman ist, ebenso der Bestand und der Vergang in ebendemselben stattfinden. Es lässt sich nämlich für die wie bezeichnet beschaffene Welt eine andre Ursache als den wie bezeichnet beschaffenen Gott nicht annehmen, indem sich weder aus einer ungeistigen Urmaterie, | noch aus Atomen, noch aus dem Nichtsein, noch aus der Wanderseele der Ursprung u.s.w. der Welt begreifen lässt, und ebensowenig aus ihrer eignen Natur, sofern alle die besonderen Zustände des Raumes, der Zeit und der Ursache das [zu erklärende] Gegebene bilden. Dieses ist nur eine Schlussfolgerung, welche jedoch von den an der Causalität Gottes Festhaltenden als beweiskräftig angesehen wird für die Existenz u.s.w. eines über die Wanderseele hinausliegenden Gottes. – ›Wird nun vielleicht auch hier, in unserem Sûtram, nur auf diese Schlussfolgerung hingedeutet?‹ – Doch nicht! Denn der Zweck der Sûtra's ist vielmehr der, die Upanishadworte zu einem Blumenkranze zusammenzureihen, indem es Upanishadworte sind, welche in den Sûtra's citiert und betrachtet werden. Denn allein dadurch, dass man den Sinn der heiligen Worte betrachtet und hierbei stehen bleibt, wird | die Erlangung des Brahman vollbracht, nicht aber dadurch, dass man Schlussfolgerungen und sonstige Beweismittel anwendet. Sind aber einmal solche Vedântatexte, welche die Ursache für Ursprung u.s.w. der Welt anzeigen, vorhanden, so ist weiterhin auch ein Schlussverfahren, welches zur Bestätigung, dass man den Sinn der Schriftworte wirklich erfasst hat, dient und mit denselben nicht in Widerspruch tritt, als ein Beweismittel nicht unzulässig. Denn auch von der Schrift selbst wird die Reflexion herbeigezogen. So, wenn es heisst: »man soll ihn hören, soll ihn | verstehen«, (Bṛih. 2, 4, 5); und ferner: »wie jener belehrt und verständig zu den Gandhârern heimgelangt, also auch[11] ist ein Mann, der hienieden einen Lehrer gefunden, sich bewusst« (Chând. 6, 14, 2.) In diesen Worten weist die Schrift sich selbst zur Gefährtin die menschliche Erkenntnis zu. Auch sind nicht so wie bei der Pflichtforschung die Schriftworte die alleinige Autorität auch bei der Brahmanforschung; vielmehr haben hier die Schriftargumente und, je nachdem es kommt, auch die aus der Wahrnehmung u.s.w. geschöpften Argumente Beweiskraft, und zwar weil die Brahmanforschung in der unmittelbaren Wahrnehmung ihr Endziel findet, und weil sie sich auf einen thatsächlich vorhandenen Gegenstand richtet. Denn wo es sich um Pflichterfüllung handelt, kommt die Wahrnehmung nicht in Betracht, und sind mithin die Schriftworte die einzige Autorität; auch schon deswegen, weil eine zu erfüllende Pflicht in ihrer Verwirklichung von dem Menschen abhängig ist; denn ein weltliches wie ein vedisches Werk kann gethan werden oder nicht gethan werden oder anders gethan werden, sowie man zu Pferde reisen kann, oder zu Fuss, oder sonstwie, | oder überhaupt nicht. So z.B. wenn es heisst: »er benutzt beim Übernachtsopfer die sechzehnteilige [Strophe]«, – »er benutzt nicht beim Übernachtsopfer die sechzehnteilige [Strophe]«, (vgl. p. 370, 1. 483, 1); oder: »er opfert nach Sonnenaufgang« – »er opfert vor Sonnenaufgang« (Ait. br. 5, 31, 1), so handelt es sich dabei um Vorschriften und Verbote, und hierbei hat es einen Sinn, von einer Wahlfreiheit, von Regeln und von Ausnahmen zu reden. Ein wirklicher Gegenstand hingegen lässt keine Wahlfreiheit darüber zu, ob er so oder so ist oder nicht ist. Mag immerhin, wo es sich um ein Auswählen handelt, dieses von dem Dafürhalten des Menschen | abhängig sein, so ist doch die Erkenntnis der Wesensbeschaffenheit eines Gegenstandes nicht von dem Dafürhalten des Menschen abhängig, sondern allein von dem Gegenstande selbst. Wenn z.B. der Gegenstand ein Baumstamm ist, so kann er nicht nach der wahren Erkenntnis ein Baumstamm oder ein Mensch oder sonst etwas sein; denn dass es ein Mensch oder sonst etwas sei, ist eine falsche Erkenntnis, und nur dass es ein Baumstamm ist, ist die wahre Erkenntnis, indem dieselbe von dem Gegenstande abhängig ist. Wo es sich also um irgendwie beschaffene Gegenstände handelt, da wird die Richtigkeit der Erkenntnis bedingt durch das Objekt. Ist dem so, dann muss auch die Erkenntnis des Brahman nur durch das Objekt bedingt sein, weil es sich dabei um einen wirklich vorhandenen Gegenstand handelt. – ›Aber, wenn es sich bei Brahman um einen wirklich vorhandenen Gegenstand handelt, muss dann derselbe nicht ein blosses Objekt der andern [weltlichen] Erkenntnismittel sein, und ist somit die Untersuchung der Upanishadworte nicht überflüssig?‹ – Doch nicht! Denn da Brahman kein Objekt der Sinne ist, so würde sich sein [Kausal-] Nexus mit der Welt nicht [mit Sicherheit] ergreifen lassen. Nämlich: die Sinne haben ihrer[12] Natur nach als Objekt die Aussendinge und nicht das Brahman. | Wäre nun Brahman ein Objekt der Sinne, so würde man diese Welt als eine mit Brahman verknüpfte Wirkung wahrnehmen. Nun man aber die Wirkung allein wahrnimmt, so lässt sich [ohne Offenbarung] nicht ausmachen, ob sie mit Brahman oder vielleicht mit sonst etwas [als Ursache] verknüpft ist, [da dieselbe Wirkung verschiedene Ursachen haben kann]. Somit hat unser Sûtram nicht den Zweck, eine Schlussfolgerung darzulegen, sondern vielmehr, auf das Vedântawort hinzuweisen. Welches ist nun dasjenige Vedântawort, auf welches durch unser Sûtram hingedeutet wird? In der Stelle, die anhebt mit den Worten: »Bhrigu, fürwahr, der Sohn des Varuna, trat vor seinen Vater Varuna und sprach: ›Lehre mich, Verehrungswürdiger, das Brahman‹«, heisst es weiterhin: »dasjenige, fürwahr, woraus diese Wesen entspringen, wodurch sie, entsprungen, leben, und worein sie dahinscheidend wieder eingehen, das suche zu erkennen, das ist das Brahman« (Taitt. 3, 1), und das Resultat dieser Forschung wird angegeben in den Worten: | »die Wonne wahrlich ist es, aus welcher diese Wesen entspringen, die Wonne, durch welche sie, entsprungen, leben, die Wonne, in welche sie dahinscheidend wieder eingehen« (Taitt. 3, 6.) Und so liessen sich noch manche andere derartige Stellen anführen, welche das seiner Natur nach ewige, reine, weise, freie, allwissende Wesen als die Weltursache bezeichnen.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 10-13.
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