[230] 15. samâkarshât
wegen der Heranziehung.

[230] Wenn es heisst: »Nichtseiend war zu Anfang diese Welt« (Taitt. 2, 7), so wird hiermit nicht ein wesenloses Nichtseiendes für die Weltursache erklärt; denn es hiess vorher (Taitt. 2, 6):


»Der ist nur ein Nichtseiender, wer Brahman als nichtseiend weiss;

Wer Brahman weiss als Seiendes, wird dadurch selbst ein Seiender;«


hier wird unter Verwerfung der Behauptung, dass [zu Anfang] das Nichtseiende gewesen sei, | das durch das Merkmal der Existenz gekennzeichnete Brahman, auf Grund der [unmittelbar vorhergehenden] Reihenfolge der [ihm abgestreiften] Hüllen des nahrungsartigen Selbstes u.s.w. (Taitt. 2, 1-5), für den Âtman in uns [die innere Seele] erklärt, und nachdem in den darauf folgenden Worten: »derselbige begehrte« (Taitt. 2, 6) eben dieser in Rede stehende Âtman wieder herangezogen worden, um eingehend zu zeigen, wie aus diesem die Schöpfung hervorgegangen, und dieses wieder zusammengefasst worden in den Worten: »dieses nennen sie die Realität«, so wird mit den Worten: »darüber ist auch dieser Vers« mit Bezug auf eben jenen in Rede stehenden Gegenstand der Vers beigebracht: »nichtseiend war zu Anfang diese Welt« (Taitt. 2, 7.) Wäre nun in diesem Verse ein wesenloses Nichtseiendes zu verstehen, so wäre ein anderes das [aus dem Vorhergehenden] Herangezogene und ein anderes das [zu seiner Erläuterung] Beigebrachte, und die Stelle würde somit ohne Zusammenhang sein. Man muss daher vielmehr annehmen, dass hier, in Anbetracht dass das Wort »das Seiende« gewöhnlich von der in Namen und Gestalten ausgebreiteten Welt der [empirischen] Dinge gebraucht wird, sofern doch diese Weltausbreitung damals noch nicht vorhanden gewesen, in uneigentlichem Sinne gesagt wird, das vor der Weltschöpfung seiend vorhandene Brahman sei gleichsam ein Nichtseiendes gewesen. – In derselben Weise ist auch die Stelle zu behandeln: »diese Welt war zu Anfang nichtseiend« (Chând. 3, 19, 1), sofern [unmittelbar darauf zur Erläuterung] die Worte herangezogen werden: »dieses [Nichtseiende] war das Seiende«. Denn wäre hier ein absolutes Nichtsein zu verstehen, warum hiesse es dann wohl weiter: »dieses war das Seiende?« – Und auch wenn es heisst: »da sagen nun einige, nichtseiend sei diese Welt zu Anfang gewesen« (Chând. 6, 2, 1), so ist in dieser Anführung der Meinung einiger nicht eine Beziehung auf eine andere Stelle der Schrift anzunehmen, da ein Wahlbelieben, wie es wohl bei vorgeschriebenen Werken stattfindet, hier, wo es sich[231] um einen wirklich vorhandenen Gegenstand handelt, nicht zulässig ist. Nur also, um die von der Schrift angenommene Auffassung, dass das Seiende zu Anfang war, zu bestätigen, wird diese von stumpfen Geistern aufgestellte Lehre von dem Nichtseienden als dem Anfänglichen angeführt und widerlegt; so ist es anzunehmen. – Ferner wenn es heisst: »diese Welt war damals nicht entfaltet; [ebendieselbe entfaltete sich in Namen und Gestalten]« (Bṛih. 1, 4, 7), so ist | auch hier nicht davon die Rede, dass sich die Welt ohne erkennendes Subjekt (adhyaksha) aus sich heraus entfaltet habe. Denn sogleich darauf heisst es: »in sie ist jener [Âtman] eingegangen bis in die Nagelspitzen hinein« (Bṛih. 1, 4, 7); hier wird als derjenige, welcher in die entfaltete Weltwirkung eingegangen sei, das erkennende Subjekt herangezogen. Wäre hier an eine Weltentfaltung ohne erkennendes Subjekt zu denken, so müssen wir fragen, wer denn wohl durch das unmittelbar folgende, auf ein Vorhererwähntes sich beziehende Pronomen »jener« als derjenige, welcher in die entfaltete Weltwirkung eingegangen sei, herangezogen werden solle? Ja, auch die Schrift sagt, dass dies von dem Eingehen des geistigen Âtman in den Leib zu verstehen sei, indem sie die Geistigkeit des Eingegangenen bezeugt in den [weiter folgenden] Worten: »als sehend heisst er Auge, als hörend Ohr, als verstehend Verstand« (Bṛih. 1, 4, 7.) Auch ist zu schliessen, dass ebenso wie sich die Welt heute noch nur unter Voraussetzung eines erkennenden Subjektes (adhyaksha) zu Namen und Gestalten entfaltet [d.h. ebenso wie, nach Kants Worten: »wenn ich das denkende Subjekt wegnehme, die ganze Körperwelt wegfallen muss«], ebenso dieses auch bei der Anfangsschöpfung gewesen sei, denn es ist unzulässig, eine der [unmittelbaren] Erfahrung widerstreitende Annahme [für die Urzeit] aufzustellen. Und auch eine andere Schriftstelle: »ich will mit diesem lebenden Selbste [der individuellen Seele] in sie eingehen und auseinanderbreiten Namen und Gestalten« (Chând. 6, 3, 2) lehrt, dass nur vermittelst des erkennenden Subjektes die Ausbreitung der Welt vor sich gegangen ist. – Wenn endlich auch die Form des Verbum finitum in dem Ausdrucke: »die Welt entfaltete sich« den Thäter der Handlung [eigentlich] schon einschliesst, so ist dies doch dahin aufzufassen, dass die Leichtigkeit, mit der die Welt, natürlich unter Voraussetzung des höchsten Gottes als Thäters, sich entfaltete, darin ausgesprochen liegt, ähnlich wie in dem Ausdrucke: »das Feld mäht sich«, als geschähe es von selbst, natürlich ein mähendes Subjekt zu ergänzen ist. – Oder auch man kann annehmen, dass diese [reflexive] Verbalform [nicht den Thäter schon einschliesst, sondern] nur die Handlung ausdrückt, und dass der durch die Sache gebotene Thäter dabei stillschweigend vorausgesetzt wird, ähnlich wie in dem Ausdrucke: »die Dorfstrasse belebt sich« [die dieselbe belebenden Menschen].

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 230-232.
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