[119] 24. vaiçvânaraḥ, sâdhâraṇa-çâbda-viçeshât
der Allverbreitete, wegen Specificierung der allgemeinen Ausdrücke.

»Was ist unsere Seele, was das Brahman? ... Diesen allverbreiteten (vaiçvânara) Âtman, den du jetzt studierst, | mögest du uns mitteilen«; nach diesen Worten, und nachdem Himmel, Sonne, Wind, Äther, Wasser und Erde als mit den Eigenschaften der Wohlkräftigkeit u.s.w. verbunden, und, unter Verwerfung der Verehrung des einen oder andern von ihnen, als das Haupt u.s.w. des allverbreiteten Âtman bezeichnet worden, heisst es: »wer aber diesen Âtman Vaiçvânara (den allverbreiteten) so, – als eine Spanne lang – und als unmessbar gross verehrt, der isset Nahrung in allen Welten, in allen Wesen, in allen Leibern. An diesem[119] Âtman Vaiçvânara ist das Haupt Wohlkraft, sein Auge ist Allform, sein Odem Sonderweg, sein Leib die weite Zusammenkittung, | sein Eingeweide der Reichtum; die Erde ist seine Füsse, seine Brust das Opferbett, seine Haare die Opferstreu, sein Herz ist das Gârhapatya-Feuer, sein Manas das Anvâhâryapacana-Feuer, sein Mund das Âhavanîya-Feuer« u.s.w. (Chând. 5, 11-24.) – Hier erhebt sich die Frage, ob unter dem Ausdrucke Vaiçvânara (allverbreitet) das Verdauungsfeuer zu verstehen ist oder das Element des Feuers oder die dasselbe repräsentierende Gottheit, oder eine verkörperte Seele, oder endlich der höchste Gott? Woher nun wieder dieser Zweifel? Weil das Wort Vaiçvânara als gemeinsamer Ausdruck für das Verdauungsfeuer, das Feuerelement und die Gottheit [Agni] verwendet wird, und weil [das dabei stehende Wort] Âtman sowohl die verkörperte Seele als auch den höchsten Gott bezeichnen kann. Welches von diesen also soll man hier verstehen und welches nicht? das ist die Frage.

Angenommen zunächst, ›[der Âtman Vaiçvânara] bedeute das Verdauungsfeuer (jâṭhara agni.) Warum? weil das Wort zuweilen speciell in dieser Verwendung vorkommt, z.B. wenn es heisst: »dieses ist das Feuer Vaiçvânara, welches hier inwendig im Menschen ist, durch welches diese Nahrung verdaut [wörtlich: gekocht] wird, die man so isset« (Bṛih. 5, 9, 1.) – Oder Vaiçvânara ist kurzweg das Feuer, weil der Ausdruck [nicht nur speciell sondern] selbst allgemein in diesem Sinne gebraucht wird; z.B. in der Stelle (Ṛigv. 10, 88, 12):


»Dem Weltall von den Göttern ist das Feuer

Vaiçvânara verliehn als Tageszeichen.«


– Oder es ist die Gottheit, deren Leib das Feuer ist, denn auch von dieser [d.h. von Agni] kommt Vaiçvânara vor, denn die Schrift sagt z.B. (Ṛigv. 1, 98, 1):


»Lasst in der Huld Vaiçvânara's uns | bleiben,

Denn er ist ja der Wesen Fürst und Segner.«


In dieser und ähnlichen Stellen bedeutet das Wort die mit Machtherrlichkeit u.s.w. ausgestattete Gottheit [des Agni]. – Oder vielleicht muss man, weil das Wort mit dem Worte Âtman koordiniert steht, und weil in den Eingangsworten: »was ist unser Âtman, was das Brahman?« das Wort Âtman allein vorkommt, das Wort Vaiçvânara in der Umdeutung als Âtman verstehen? In diesem Falle könnte es aber nur die verkörperte Seele bedeuten, indem diese, vermöge ihres Geniesserseins dem Vaiçvânara [dem Feuer als dem Verzehrenden] nahe steht; wie denn auch die Bestimmung als »eine Spanne lang« auf sie zufolge ihrer[120] Umgrenzung durch die Upâdhi's passen würde. Somit darf nicht Gott unter dem Vaiçvânara verstanden werden.‹

Auf diese Behauptung erwidern wir, dass vielmehr der Vaiçvânara hier den höchsten Âtman bedeuten muss; warum? »wegen Specificierung der allgemeinen Ausdrücke«, d.h. weil die beiden allgemeinen Ausdrücke hier specificiert werden. Denn wenn auch die beiden hier gebrauchten Ausdrücke, Âtman und Vaiçvânara, von allgemeinerer Art sind, sofern Vaiçvânara dreierlei und Âtman zweierlei bedeuten kann, so findet sich doch hier eine specificierende Bestimmung, aus der ihre Beziehung auf den höchsten Gott erhellt; denn wenn es heisst: »fürwahr an diesem Âtman Vaiçvânara ist das Haupt Wohlkräftigkeit« u.s.w. (Chând. 5, 18, 2), so kann es doch nur der höchste Gott sein, | dem der Himmel als Haupt u.s.w. zugeschrieben wird, und der sodann in einem anderen Zustande als das innere Selbst, zum Zwecke der Meditation, geschildert wird; dies ergiebt sich daraus, dass er die Ursache [von allem] ist. Denn weil die Ursache in allen Zuständen der Wirkung der Träger dieser Zustände ist, deswegen können [an Gott] die Himmelswelt u.s.w. als seine Glieder bezeichnet werden. Ferner wenn es heisst: »der isset Nahrung in allen Welten, in allen Wesen, in allen Leibern« (Chând. 5, 18, 1), so passt diese Erwähnung eines Lohnes, der in allen Welten u.s.w. seine Verwirklichung findet, nur, wenn man dabei an die höchste Ursache denkt. Auch wird in den Worten »so verbrennen alle Sünden« u.s.w. (Chând. 5, 24, 3) gelehrt, dass alle Sünden desjenigen, der dieses weiss, verbrennen. Endlich auch die Zusammenstellung der Worte Âtman und Brahman zu Anfang, wo es hiess: »was ist unsere Seele, was das Brahman?« – alles dieses miteinander sind Merkmale des Brahman, welche dafür sprechen, dass hier der höchste Gott zu verstehen ist. Somit kann der Vaiçvânara nur den höchsten Gott bedeuten.

Quelle:
Die Sűtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 119-121.
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