[414] 29. tad-guṇa-sâratvât tu tad-vyapadeçaḥ, prâjñavat
vielmehr weil sie [die Seele im Saṃsârastande] als Kern die Qualitäten jener [Buddhi] hat, geschieht die Bezeichnung als solche, wie bei dem allweisen [Âtman].

Das Wort »vielmehr« weist die Meinung des Gegners ab. Es ist nicht wahr, dass die Seele von minimaler Grösse ist; denn da[414] vielmehr die Schrift keine Entstehung der Seele, sondern nur ein Eingehen des höchsten Brahman [in die Elemente] lehrt und dadurch die Identität der Seele mit Brahman darlegt, so muss die Seele das höchste Brahman selbst sein. Ist aber die Seele das höchste Brahman selbst, so folgt, dass sie ebenso gross wie das höchste Brahman sein muss; nun ist das höchste Brahman nach der Schrift alldurchdringend, und somit muss auch die Seele alldurchdringend sein. Dem entspricht es, dass in Stellen wie: »wahrlich dieses grosse ungeborene | Selbst, das ist unter den Lebensorganen jener aus Erkenntnis bestehende« (Bṛih. 4, 4, 22), von der Seele die Alldurchdringung in Schrift und Smṛiti ausgesagt wird.

Auch würde, wenn die Seele minimal wäre, eine durch den ganzen Leib hindurch sich erstreckende Empfindung unmöglich sein. Zwar wurde gesagt, dass dieselbe durch den Gefühlssinn bewirkt werde; aber dies müssen wir bestreiten; denn dann müsste auch, wenn man die Haut (den Gefühlssinn, tvac) durch einen Dorn verletzt, ein den ganzen Leib durchziehender Schmerz eintreten, indem die Verbindung des Gefühlssinnes mit dem Dorne sich auf den ganzen Gefühlssinn erstreckt, der Gefühlssinn aber den ganzen Körper durchzieht; man empfindet aber vielmehr, wenn man in einen Dorn getreten hat, den Schmerz nur an der Fusssohle.

Ferner würde bei Minimalheit der Seele eine Erstreckung ihrer Qualitäten [durch den Leib] nicht möglich sein, weil eine Qualität an ihren Träger räumlich gebunden ist; denn wäre sie nicht von diesem abhängig, so würde sie eben aufhören eine Qualität zu sein. Und was zunächst das Licht der Lampe betrifft, so wurde bereits auseinandergesetzt, dass dasselbe eine besondere Substanz sei. Aber auch der Geruch kann, wenn man ihn für eine Qualität hält, nur zusammen mit seinem Träger sich verbreiten; denn sonst würde er eben keine Qualität sein. Und dem entsprechend | sagt auch der erhabene Dvaipâyana (Mahâbh. 12, 8518):


»Es schreiben den Geruch Unkund'ge nur

Dem Wasser zu, wo sie ihn wahrgenommen;

Stets zu der Erde hin führt seine Spur,

Von wo in Luft und Wasser er gekommen.«


Wenn ferner die Geistigkeit der Seele den ganzen Leib durchzieht, so kann die Seele nicht minimal sein; denn die Geistigkeit macht das eigentliche Wesen derselben aus, wie Hitze und Licht das des Feuers, und es besteht zwischen beiden nicht das Verhältnis einer Qualität und ihres Trägers. – Da nun die Annahme, als sei die Seele so gross wie der Leib, bereits widerlegt wurde, so bleibt nur übrig, die Seele für unendlich gross zu halten.[415]

›Aber wie kann die Seele dann als minimal bezeichnet werden?‹ – Darauf dient zur Antwort: »vielmehr weil sie als Kern die Qualitäten jener hat, geschieht die Bezeichnung als solche«; die Qualitäten jener, d.h. die Qualitäten der Buddhi, wie solche z.B. Neigung und Abneigung, Lust und Schmerz sind; diese Qualitäten bilden im Saṃsârastande den Kern, d.h. den Hauptbestand der Seele, und darum heisst es, dass die Seele als Kern die Qualitäten der Buddhi habe. Denn ohne die Qualitäten der Buddhi und für die von ihnen freie Seele ist das Wanderer-sein nicht möglich; denn dieses Wanderer-sein hat als Merkmale das Thäter-sein und Geniesser-sein der Seele, welche beide dadurch bedingt werden, dass die Eigenschaften der Upâdhi's der Buddhi auf die Seele übertragen werden; ohne diese aber, ohne das Thäter-sein und Geniesser-sein, würde die Seele gar nicht wandern, | sondern ewig erlöst sein. Weil also die [wandernde] Seele als Kern die Qualitäten der Buddhi hat, darum wird ihr Umfang durch den Umfang der Buddhi bezeichnet. Und sofern weiter für die Buddhi ein Ausziehen aus dem Leibe u.s.w. stattfindet, kann auch von einem Ausziehen der Seele die Rede sein, nicht aber von einem solchen der Seele an sich (svatas.) Auch sagt ja die Schrift (Çvet. 5, 9):


»Spalt' hundertmal des Haares Spitze

Und nimm davon ein Hundertstel,

Das wisse als der Seele Grösse,

Und sie wird zur Unendlichkeit.«


Nachdem hier die Minimalheit der Seele ausgesprochen worden, heisst es sofort von eben derselben, dass sie unendlich sei; und das stimmt nur dann miteinander zusammen, wenn man annimmt, dass der Seele die Minimalheit nur im uneigentlichen Sinne, hingegen im Sinne der absoluten Realität die Unendlichkeit beigelegt werde. Denn beides im eigentlichen Sinne zu nehmen geht nicht an; auch darf man nicht etwa annehmen, dass die Unendlichkeit der Seele nur in uneigentlichem Sinne zukomme; denn alle Upanishad's sind bestrebt zu lehren, dass die Seele ihrem Wesen nach Brahman ist. Dasselbe gilt von der andern Grössenbestimmung der Seele in den Worten (Çvet. 5, 8):


»Durch Eigenschaft der Buddhi und des Leibes

Gross einer Ahle Spitze scheint der andre.«


Hier wird von der Seele gesagt, dass sie nur zufolge ihrer Verbindung mit den Qualitäten der Buddhi, nicht aber ihrem eigenen Wesen nach so gross sei wie die Spitze einer Ahle. Und auch in der Stelle: »atomklein ist das Selbst im Geist zu wissen« (Muṇḍ. 3, 1, 9) wird nicht etwa gelehrt, dass die Seele von atomartigem[416] Umfange sei; es ist vielmehr hier von dem höchsten Âtman die Rede, von dem vorher gesagt worden war, dass er nicht durch das Auge und die übrigen Sinne erforschbar, | sondern nur durch die Gnade des Wissens zu erreichen sei (Muṇḍ. 3, 1, 8); und auch der individuellen Seele könnte unmöglich im eigentlichen Sinne ein minimaler Umfang zugeschrieben werden; somit muss jene Schriftaussage über die atomartige Kleinheit entweder nur die Schwererkennbarkeit des Âtman besagen, oder es ist von den Upâdhi's zu verstehen. – Ähnlich steht es mit dem Worte: »sie besteigt mittels der Erkenntnis den Leib« (Kaush. 3, 6); wenn hier eine Verschiedenheit [der Seele und der Erkenntnis] erwähnt wird, so bedeutet dieses entweder nur, dass die Seele mittels der Buddhi, welche ihr Upâdhi ist, den Leib besteige, oder sie ist nur ein bildlicher Ausdruck, ähnlich wie wenn man von dem Leibe einer steinernen Figur spricht. Denn eine Trennung der Qualität von ihrem Träger [der Erkenntnis von der Seele] ist, wie wir zeigten, nicht anzunehmen. – Auch das Wort, dass die Seele ihren Standort im Herzen habe, bezieht sich nur auf die Buddhi, denn diese hat dort ihren Standort. – Ebenso lehrt ferner die Schrift, dass der Auszug u.s.w. sich nur auf die Upâdhi's beziehe, denn es heisst: »was ist dasjenige, bei dessen Auszug ich ausziehe, und bei dessen Bleiben ich bleibe? so sprach er und schuf den Prâṇa« (Praçna 6, 3.) Findet aber kein Auszug statt, so ist auch ein Hingehen und Wiederkommen unmöglich; denn ohne dass die Seele den Leib verliesse, könnte sie nicht irgendwohin gehen oder von dort zurückkommen. – Somit wird die Seele als minimalgross nur insofern bezeichnet, als sie als Kern die Qualitäten der Upâdhi's hat, »wie bei dem allweisen«; d.h. es ist damit ähnlich, wie wenn der allweise, nämlich der höchste Âtman, in den attributhaften Verehrungen, wo er als Kern die Qualitäten seiner Upâdhi's hat, als sehr klein u. dgl. bezeichnet wird, wenn es z.B. heisst: »kleiner als ein Reis- oder Gerstenkorn; – Verstand ist sein Stoff, Odem sein Leib; – allriechend ist er, allschmeckend« (Chând. 3, 14, 3. 2); – »sein Wünschen ist wahrhaft, wahrhaft sein Ratschluss« (Chând. 8, 7, 1.)

| ›Nun wohl! aber wenn das Wanderer-sein der Seele nur dadurch zu Stande kommen soll, dass sie als Kern die Qualitäten der Buddhi hat, so sind doch die Buddhi und die Seele verschieden, und somit ist ein Aufhören ihrer Verbindung endlich einmal unvermeidlich; findet aber in Folge davon eine Abtrennung von der Buddhi statt, so folgt, dass die von ihr abgetrennte Seele, da sie nicht mehr in die Erscheinung tritt, entweder zunichte werden muss oder doch nicht mehr wandernd sein kann.‹ – Auf dieses Bedenken dient als Antwort:

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 414-417.
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