[436] 47. smaranti ca
und auch die Smṛiti lehrt.

Und auch die Smṛiti eines Vyāsa u.s.w. lehrt, dass von dem Schmerze der individuellen Seele der höchste Ātman nicht betroffen wird, wenn sie sagt (Mahābh. 12, 13754):


»Die höchste Seele, ewig, qualitätlos,

Wird durch die Frucht der Werke nicht befleckt,

Wie durch das Wasser nicht das Lotosblatt.

Die niedere aber, die werkhafte Seele,

Verknüpft mit der Erlösung und der Bindung,

Wird in das Dasein immer neu verstrickt

Durch der Organe siebzehnfache Schaar.«


| In dem Worte »und auch« liegt, dass auch die Schrift ebendasselbe lehrt; z.B. wenn sie sagt (Muṇḍ. 3, 1, 1):


»Der eine isst die süsse Beere,

Der andre schaut nichtessend zu;«[436]


und (Kāṭh. 5, 11):


»So bleibt die inn're Seele aller Wesen

Vom Schmerz der Welten unberührt und frei.«


Hier nun erhebt sich folgender Einwand. Wenn es sonach doch nur eine innere Seele für alle Wesen giebt, wie können dann die Gebote und Verbote, sei es die weltlichen oder die vedischen, bestehen? – ›Nun, wir haben ja auseinandergesetzt, dass die Seelen auch Teile Gottes sind; sofern er nun sich in dieselben zerteilt hat, können die Gebote und Verbote, indem sie hierauf sich beziehen, ohne Durchkreuzung [der individuell geübten Pflichten und der entsprechenden Belohnungen] ihren Lauf haben; was bleibt also dabei zu fragen?‹ – Antwort: dem ist nicht so! denn es giebt auch Schriftstellen, welche lehren, dass die Seele nicht ein blosser Teil Gottes sei, indem sie vielmehr ihre Identität mit Gott behaupten; z.B. wenn es heisst: »nachdem er dieses erschaffen, ging er in dasselbe ein« (Taitt. 2, 6); – »nicht giebt es ausser ihm einen Sehenden« (Bṛih. 3, 7, 23), – »von Tod zu Tode wird verstrickt, wer ein Verschiedenes hier erblickt« (Bṛih. 4, 4, 19); – »das bist du« (Chānd. 6, 8, 7); – »ich bin Brahman« (Bṛih. 1, 4, 10.) – ›Aber wir sagten ja doch, dass die Seele gerade insofern ein Teil von Brahman sei, als sie mit ihm nicht identisch und doch identisch sei!‹ – Das möchte angehen, wenn in der Schrift die Absicht bestünde, beides, die Nichtidentität und Identität, zu lehren; es besteht in ihr aber vielmehr die Absicht, nur die Identität zu lehren, sofern das Ziel des Menschen dadurch erreicht wird, dass er sich als die Wesenheit des Brahman erkennt. Was hingegen die von Natur aus für wahr gehaltene Nichtidentität beider betrifft, so wird diese von der Schrift nur [als die Meinung des natürlichen Menschen] erwähnt. Hierzu kommt, dass das Brahman ohne Glieder ist, dass somit die Seele unmöglich im eigentlichen Sinne einen Teil von ihm ausmachen kann. | Hieraus folgt, dass es die eine höchste Seele selbst sein muss, welche als das innere Selbst aller Wesen in Gestalt der individuellen Seele besteht. Somit bleibt allerdings die Möglichkeit der Gebote und Verbote noch zu erklären; und dieses wollen wir denn jetzo unternehmen.

Quelle:
Die Sūtra's des Vedānta oder die Ēārīraka-Mīmāṅsā des Bādarāyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 436-437.
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