[275] 11. tarka-apratishṭhânâd api anyathâ anumeyam, iti ced? evam api avimoksha-prasa gaḥ
bei Unbegründetheit der Reflexion könne man ja anders reflektieren, meint ihr? Auch so kommt ihr nicht los [oder: auch so ist keine Möglichkeit der Erlösung].

Auch darum darf die blosse Reflexion in einer durch die heilige Überlieferung zu erkennenden Sache sich nicht dagegen erheben, weil Reflexionen, welche ohne die heilige Überlieferung nur auf der Spekulation der Menschen beruhen, als unbegründet sich herausstellen, indem eine solche Spekulation der richtigen Zügelung ermangelt. So werden z.B. die von einigen Sachkundigen mit Mühe erdachten Reflexionen von andern noch Sachkundigeren als bloss scheinbare erkannt, und die von diesen erdachten wiederum ebenso von andern. Darum ist man niemals sicher, dass derartige Reflexionen wohlbegründet sind, | indem der menschlichen Meinungen mancherlei sind. – ›Aber wenn da einer ist von anerkannter Grösse, ein Kapila oder ein anderer, der eine Reflexion ersonnen hat, so könnte man doch auf diese als wohlbegründet sich verlassen‹? – Auch so fehlt es an der rechten Begründung, indem auch die anerkannt grossen Bahnbrecher, wie Kapila, Kanâda u.s.w., sich offenbar widersprechen.

Vielleicht wendet man ein: ›nun wohl, so werden wir anders reflektieren, so dass jener Fehler der Unbegründetheit vermieden wird. Denn das kann doch niemand behaupten, dass eine wohlbegründete Reflexion überhaupt nicht existieren könne, weil eben jene Behauptung von der Unbegründetheit aller Reflexionen sich selbst nur auf Reflexion stützen würde, sofern man aus der Wahrnehmung,[275] dass gewisse Reflexionen unbegründet sind, darauf schliesst, dass auch die übrigen derartigen Reflexionen unbegründet sein müssen. Soll aber in dieser Weise alle und jede Reflexion grundlos sein, nun, dann hört überhaupt alle auf Erfahrung gegründete Thätigkeit auf. Denn nur auf der Analogie mit der vergangenen und gegenwärtigen Erfahrung beruht es, dass man auch einen bisher noch nicht betretenen Weg einschlagen kann, um zur Lust zu gelangen und dem Leid zu entgehen. Und auch bei der Schriftauslegung, wo es sich darum handelt, bei einer Kontroverse über den wahren Sinn der Schrift, den unrichtigen Sinn zu | widerlegen, kann die Feststellung des richtigen Sinnes nur dadurch erreicht werden, dass man, und zwar mit Hülfe der Reflexion, den Zusammenhang der betreffenden Stelle prüft. Und dies ist auch die Meinung des Manu, wenn er sagt (12, 105 fg.):


»Anschauung, Folgerung und dann die Schrift

In ihren mannigfachen Überlieferungen,

Mit diesen dreien wohlbekannt muss sein,

Wer Klarheit über das, was Pflicht ist, wünscht.


Nur wer die Pflichtbelehrungen der Weisen

Weiss auszulegen durch Reflexion,

Die übereinstimmt mit des Veda Richtschnur,

Der weiss was Pflicht ist und kein andrer sonst.«


Auch ist das ja gerade der Vorzug der Reflexion, was ihr die Unbeständigkeit derselben nennt. Denn durch diese wird es möglich, eine mangelhafte Reflexion fallen zu lassen und einer tadellosen Reflexion sich zuzuwenden. Denn wenn ein Früherer geirrt hat, so folgt deswegen doch noch nicht, dass man auch selbst irren muss, und darum ist aus der Unbeständigkeit der Reflexion kein Vorwurf gegen uns zu erheben.‹ –

Hierauf erwidern wir: »auch so kommt ihr nicht los«; denn wenn es sich auch herausstellen sollte, dass auf manchen Gebieten die Reflexion begründet ist, so kann sie doch auf dem Gebiete, von dem hier die Rede ist, nicht von dem Vorwurfe der Unbegründetheit freigesprochen werden. Denn es ist nicht möglich, dieses überaus tiefe, mit der Erlösung zusammenhängende Wesen des Seienden ohne die heilige Überlieferung irgend wie zu erkennen. – Denn in den Bereich der Wahrnehmung fällt dieser Gegenstand nicht, weil er keine Gestalt u.s.w. hat, | und auch nicht in den Bereich der Folgerung und der übrigen Erkenntnismittel, weil keine Merkmale u.s.w. desselben vorhanden sind, wie wir dies bereits auseinandergesetzt haben. Ferner: in dem Satze, dass die Erlösung aus der vollkommenen Erkenntnis hervorgeht, stimmen alle, welche überhaupt eine Erlösung lehren, überein; diese vollkommene Erkenntnis nun ist einartig, weil sie[276] von ihrem Gegenstande abhängig ist; denn nur ein solcher Gegenstand heisst real, welcher in einartiger Weise besteht, und die diese Einartigkeit befassende Erkenntnis wird die vollkommene Erkenntnis genannt, wie wenn man z.B. erkennt, dass das Feuer heiss ist. Ist dem aber so, dann ist in Bezug auf die vollkommene Erkenntnis ein Widerspruch unter den Menschen nicht statthaft. Bei den Erkenntnissen aus Reflexion nun lehrt der eine so und der andere so, und es ist allgemein bekannt, wie sehr sie sich widersprechen. Denn was der eine Denker als die vollkommene Erkenntnis aufstellt, das wird von einem andern wieder niedergerissen, und was dieser aufstellt, das reisst wiederum ein anderer nieder, wie das ja allbekannt ist. Wie sollte also die aus der Reflexion entspringende Erkenntnis, da ihr Gegenstand kein einartig beharrender ist, die vollkommene sein können? Denn auch das z.B. wird keineswegs von allen Anhängern der Reflexion zugestanden, dass der Vertreter der Lehre von der Urmaterie [als der verbreitetesten Reflexionstheorie] unter allen Reflexionsdenkern den ersten Rang einnehme, so dass man etwa seine Meinung als die vollkommene Erkenntnis betrachten dürfte. Hinwiderum ist es ja auch nicht möglich, | alle Denker der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an einem Orte und zu einer Zeit zu versammeln, um ihr übereinstimmendes und auf denselben einheitlichen Gegenstand gerichtetes Gutachten als die vollkommene Meinung zu proklamieren. Was hingegen den Veda betrifft, so ist es begreiflich, dass dieser, falls er wirklich [wie wir es annehmen] ewig und die Ursache des Entstehens aller Erkenntnis ist, allerdings eine unwandelbare Sache zu seinem Gegenstande hat; und darum ist die aus ihm entspringende Erkenntnis die vollkommene, und dieses in Abrede zu stellen, dazu sind alle Denker der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengenommen nicht vermögend. – Somit steht es fest, dass diese unsere, auf die Upanishad's gegründete Erkenntnis die vollkommene Erkenntnis ist. Weil aber ausser ihr eine vollkommene Erkenntnis nicht möglich ist, deswegen ist auch »keine Möglichkeit der Erlösung« von der Seelenwanderung [auf ausservedischem Wege] absehbar. – Es steht sonach durch die heilige Überlieferung und durch die ihr sich anschliessende Reflexion fest, dass das geistige Brahman sowohl die bewirkende als auch die materielle Ursache der Welt ist.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 275-277.
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