[304] 27. çrutes tu, çabda-mûlatvât
vielmehr wegen der Schrift, weil es im Schriftworte wurzelt.

Mit dem Worte »vielmehr« wehrt der Lehrer diesen Einwurf ab. Es liegt nämlich auf unserer Seite durchaus kein Fehler vor. Und zunächst ist an eine Umwandlung des ganzen Brahman nicht zu denken; warum? »wegen der Schrift«. | Denn ebenso, wie die Schrift den Ursprung der Welt aus dem Brahman lehrt, lehrt sie auch das Fortbestehen des Brahman ausserhalb der Umwandlung, indem sie die Urnatur und ihre Umwandlung als zweierlei einander[304] gegenüberstellt; denn es heisst: »diese Gottheit beabsichtigte: wohlan, ich will in jene drei Gottheiten mit diesem lebenden Selbste eingehen und auseinanderbreiten Namen und Gestalten« (Chând. 6, 3, 2): – und (Chând. 3, 12, 6):


»So gross die Majestät ist der Natur,

So ist doch höher noch der Geist erhoben;

Ein Fuss von ihm sind alle Wesen nur,

Drei sind Unsterblichkeit im Himmel droben.«


Das Nämliche bezeugen die Schriftworte von seinem Standorte im Herzen (Chând. 8, 3, 3) und von dem Eingange in das Seiende (Chând. 6, 8, 1.) Denn wenn das ganze Brahman durch den Bestand der Weltwirkung verbraucht würde, so könnte die auf den Tiefschlaf bezügliche Bestimmung: »alsdann ist er, o Teurer, eingegangen in das Seiende« (Chând. 6, 8, 1), nicht richtig sein, weil man in das umgewandelte Brahman jeder Zeit schon eingegangen wäre, ein nicht umgewandeltes Brahman aber nicht vorhanden sein würde. Hierzu kommt, dass die Erreichbarkeit durch die Sinne in Betreff des Brahman verneint wird, während doch die Weltumwandlung für die Sinne erreichbar ist, woraus folgt, dass ein nichtumgewandeltes Brahman wirklich besteht. Aber gleichwohl ist eine »Erschütterung des Schriftwortes von der Gliederlosigkeit« nicht zuzugeben, indem die Gliederlosigkeit des Brahman, eben darum, weil sie von der Schrift gelehrt wird, festgehalten werden muss. Und in dem Schriftworte wurzelt ja das Brahman, in der Schrift hat es seinen Erkenntnisgrund und nicht in der Sinneswahrnehmung u.s.w.; daher muss man annehmen was die Schrift darüber lehrt. Die Schrift aber lehrt von dem Brahman beides, dass es nicht ganz [von den Erscheinungen absorbiert werde], und dass es ohne Teile sei. Kommt es ja doch auch bei weltlichen Dingen, bei Amuletten, Zaubersprüchen, | Heilkräutern u.s.w. vor, dass sie, vermöge der Verschiedenheit von Ort, Zeit und Ursache, Kräfte mit mannigfachen, einander widersprechenden Wirkungen zeigen, und auch diese lassen sich nicht ohne Belehrung durch die blosse Reflexion erkennen, und bestimmen, was für Kräfte, wovon begleitet, worauf bezüglich, wozu zweckdienlich ein bestimmtes Ding habe, – wie sollte es also möglich sein, die Natur des Brahman mit seinen unausdenkbaren Machtvollkommenheiten ohne die Schrift zu erkennen? – Und so sagen auch die Purâṇa-Lehrer:


»Bestimmungen, die unerkennbar sind,

Die lassen sich durch Denken nicht ermitteln;

Denn eben darum ist es unerkennbar.

Weil es erhaben über alles ist,

Was ihr als Urnatur ergrübeln mögt.«[305]


Es ist somit die Schrift, in welcher die Erkenntnis über das Wesen desjenigen, was der Sinneswahrnehmung entrückt ist, wurzelt.

›Aber ist es nicht auch für die Schrift unmöglich, eine in sich widersprechende Sache zu lehren, wie diese, dass das Brahman ohne Teile sei und doch auch nicht ganz umgewandelt werde? Soll das Brahman ohne Teile sein, so muss es entweder gar nicht, oder es muss ganz umgewandelt werden. Oder soll es nach der einen Seite sich umwandeln und nach der andern Seite fortbestehen, so werden zwei Seiten an ihm angenommen, und es folgt, dass dasselbe in Teile gegliedert ist. | Ja, wo es sich um Werke handelt, und dabei ein Widerspruch vorkommt, z.B. wenn es heisst: »er benutzt beim Übernachtsopfer die sechzehnteilige [Strophe]« – »er benutzt nicht beim Übernachtsopfer die sechzehnteilige [Strophe]«, – da kann man den Widerspruch dadurch heben, dass man die Wahl zwischen beidem freilässt, indem die Ausführung einer Pflichtregel von dem Menschen abhängt. Hier hingegen lässt sich nicht durch Freigebung der Wahl der Widerspruch heben, indem ein wirklich Vorhandenes nicht von der Willkür des Menschen abhängt: darum ist hier schwer zu helfen.‹ – Aber diese Einwendung ist nicht richtig, und zwar, weil festzuhalten ist, dass die Vielheit der Gestalten nur durch das Nichtwissen hervorgebracht wird. Weil das Nichtwissen eine Vielheit der Gestalten annimmt, deswegen braucht der Gegenstand selbst nicht vielheitlich zu sein. Denn weil einer, dessen Augen an der Timira-Krankheit leiden, mehr als einen Mond sieht, sind doch nicht in Wirklichkeit mehrere vorhanden. Und es ist doch nur die vom Nichtwissen aufgestellte Vielheit der Erscheinungen nach Namen und Gestalten, – sie, welche ausgebreitet und doch nicht ausgebreitet ist, und sich weder als ein Seiendes noch als das Gegenteil definieren lässt, – auf welche sich die Annahme gründet, dass das Brahman in dem ganzen aus Umwandlung hervorgehenden Welttreiben seinen Sitz habe, während das Brahman, seiner absolut realen Wesenheit nach, über alles Welttreiben erhaben, unwandelbar bestehen bleibt. Weil also die Vielheit der vom Nichtwissen aufgestellten Namen und Gestalten nur an Worte sich klammernd ist (Chând. 6, 1, 4), darum wird | die Unteilbarkeit des Brahman durch dieselbe nicht erschüttert. Auch hat die Schriftstelle, welche seine Umwandlung lehrt, gar nicht den Zweck, diese Umwandlung zu lehren, indem durch die Erkenntnis derselben keine Frucht erlangt wird; sie hat vielmehr den Zweck, zu lehren, dass wir das allem Welttreiben entrückte Brahman selbst sind, indem durch diese Erkenntnis die betreffende Frucht erlangt wird: denn in der Stelle: »er aber der Âtman ist nicht so und ist nicht so« (Bṛih. 4, 2, 4) heisst es weiterhin: »fürwahr, du hast, o Janaka, den Frieden erlangt«. – Somit ist bei unserer Annahme nicht die mindeste Veranlassung zu einem Einwurfe vorhanden.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 304-306.
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