[299] 22. adhikaṃ tu, bheda-nirdeçat
vielmehr das erhabene, wegen Aufzeigung der Verschiedenheit.

Das Wort »vielmehr« wehrt der Meinung des Gegners; es ist vielmehr das allwissende, allmächtige, seiner Natur nach ewige, reine, weise, freie Brahman, das über die verkörperte Seele erhaben und von ihr verschieden ist, welches wir für das weltschaffende Wesen erklären. | Auf dieses aber treffen die Fehler nicht zu, dass es das für sich Gute nicht hervorgebracht habe u.s.w.; denn nichts ist für dieses gut, so dass es dasselbe hervorbringen, oder übel, so dass es dasselbe vermeiden sollte, weil es das ewig [von Gutem und Bösem] Freie ist. Auch giebt es für dieses Wesen keine Schranke der Erkenntnis noch irgend eine Schranke seiner Macht, weil dasselbe allwissend und allmächtig ist. Die verkörperte Seele hingegen ist nicht von dieser Art; auf sie passen [na zu streichen] die Vorwürfe, dass sie das für sie Gute nicht hervorgebracht habe; diese aber erklären wir auch gar nicht für den Schöpfer der Welt. Woher das? »wegen Aufzeigung der Verschiedenheit«; denn es heisst: »den Âtman fürwahr soll man sehen, soll man hören, soll man verstehen, soll man überdenken« (Bṛih. 2, 4, 5); – »den soll man erforschen, den soll man suchen zu erkennen« (Chând. 8, 7, 1); – »alsdann ist er, o Teurer, eins geworden mit dem Seienden« (Chând. 6, 8, 1); – »das körperliche Selbst von dem erkenntnisartigen Selbste belastet« (Bṛih. 4, 3, 35.) In Stellen wie diesen haben wir eine Aufzeigung der Verschiedenheit von dem Thäter und seinen Werken u.s.w., welche beweist, dass das Brahman höher steht als die individuelle Seele. – ›Aber liegt nicht in Worten wie: »das bist du« (Chând. 6, 8, 7) ebenfalls eine Aufzeigung der Nichtverschiedenheit? Wie können also Verschiedenheit und Nichtverschiedenheit im Widerspruche miteinander bestehen?‹ – Dies ist kein Fehler, denn wir haben wiederholt dargethan, dass beide ebenso miteinander bestehen wie[299] der Weltraum und der Raum in den Gefässen. Weiter aber ist zu sagen: nachdem durch die Aufzeigung der Nichtverschiedenheit mittels solcher Worte wie: »das bist du«, die Nichtverschiedenheit zum Bewusstsein gekommen ist, so ist das ganze Wanderersein der individuellen Seele und das Schöpfersein des Brahman verschwunden, indem das gesamte, aus der falschen Erkenntnis herausklaffende, Treiben der Vielheit durch die vollkommene Erkenntnis niedergeschlagen worden ist. Woher sollte da eine Schöpfung kommen und woher die Beschuldigung, das ihm Gute nicht hervorgebracht zu haben? Denn der ganze Saṃsâra, wie er als seine Merkmale das Thun des Guten und des Übeln hat, ist eine durch Nichtunterscheidung der Upâdhi's (Bestimmungen), – wie sie, hervorgebracht durch das Nichtwissen, in dem aus Namen und Gestalten gebildeten Aggregate der Werkzeuge des Wirkens bestehen, – bewirkte Täuschung, | welche ebenso wie der Wahn der Spaltungen und Trennungen durch Geburt und Tod im Sinne der höchsten Realität nicht existiert. Solange aber das vielheitliche Treiben noch nicht niedergeschlagen ist, wird durch Aufzeigung der Vielheit in Worten wie: »den soll man suchen zu erkennen« (Chând. 8, 7, 1) das Erhabensein des Brahman [über die individuelle Seele] erkannt, welches die Möglichkeit der Beschuldigung, das ihm Gute nicht vollbracht zu haben, ausschliesst.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 299-300.
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