[311] 34. vaishamya-nairghṛiṇye na; sa-apekshatvât; tathâ hi darçayati
Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit nicht; weil er Rücksicht nimmt; denn so lehrt es [die Schrift].

Wiederum erhebt sich ein Einwurf dagegen, dass Gott die Ursache des Ursprunges u.s.w. der Welt sei, damit die schon anerkannte Wahrheit, wie ein Pfahl durch die [auf ihn geführten] Schläge, noch um so mehr sich befestige. – ›Es geht doch nicht, dass Gott die Ursache der Welt ist, weil er dann ungerecht und unbarmherzig sein würde. Einige hätte er zum Genusse unendlicher Lust erschaffen, z.B. die Götter, andere zum Erdulden unendlicher Schmerzen, z.B. die Tiere, und wieder andern, wie z.B. den Menschen, hätte er eine mittlere Stellung angewiesen. Somit hätte Gott eine ungleiche Schöpfung hervorgebracht, man müsste annehmen, dass er wie ein menschliches Individuum Liebe und Hass empfände, und die von der Schrift und Tradition gelehrte Lauterkeit u.s.w. der göttlichen Natur würde nicht bestehen können. Ferner würde folgen, dass auch unschuldige (akhala) Menschen die Unbarmherzigkeit und Grausamkeit Gottes fürchten müssten, weil er auch sie mit Schmerzen heimsuchte | und zuletzt alle Kreatur vernichtete. Darum also, wegen der Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit, die ihn treffen würden, kann Gott nicht die Ursache der Welt sein.‹

Auf diesen Einwurf erwidern wir, dass »Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit« gleichwohl Gott »nicht« treffen; warum? »weil[311] er Rücksicht nimmt«. Hätte nämlich Gott ohne Rücksicht, aus freien Stücken die ungleichmässige Schöpfung hervorgebracht, so würden allerdings jene Vorwürfe der Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit erhoben werden können; nun aber ist seine Schöpferthätigkeit nicht ohne Rücksichtnahme, sondern es geschieht mit Rücksicht auf etwas, dass Gott die Schöpfung so ungleichmässig eingerichtet hat. Aber worauf nimmt er denn Rücksicht? Wir antworten: er berücksichtigt die guten und bösen Werke, und darum, wegen der Rücksichtnahme auf die guten und bösen Werke der zu erschaffenden Wesen, ist die Schöpfung eine ungleichmässige, während auf Gott dabei kein Vorwurf fällt. Vielmehr ist Gott anzusehen ähnlich wie der Regen. Wie nämlich der Regen die gemeinsame Ursache bildet für das Wachstum von Reis, Gerste u.s.w., während hingegen für die Ungleichheit von Reis, Gerste u.s.w. die nichtgemeinsame, bestimmte Beschaffenheit des jedesmaligen Samens die Ursache bildet, ebenso ist Gott nur die gemeinschaftliche Ursache des Entstehens von Göttern, Menschen u.s.w., während hingegen die Ungleichheit der Götter, Menschen u.s.w. ihre Ursache hat in den nicht gemeinsamen Werken jeder einzelnen Seele. So kommt es, dass Gott wegen der Rücksichtnahme von den Vorwürfen der Ungerechtigkeit und Grausamkeit nicht getroffen wird. Aber woher wissen wir denn, dass Gott aus dieser Rücksichtnahme | den Saṃsâra mit seinen niedrigen, mittleren und hohen Ständen erschafft? Weil die Schrift es so lehrt, wenn sie sagt: »denn er machet das gute Werk thun den, welchen er aus diesen Welten emporführen will, und er hinwiderum machet das böse Werk thun den, welchen er abwärts führen will« (Kaush. 3, 8); und: »rein wird der Mensch durch reines Werk, böse durch böses« (Bṛih. 3, 2, 13.) Ebenso lehrt auch die Smṛiti, dass Gott fördernd und hemmend wirkt, je nach den bestimmten Werken der einzelnen Seelen, wenn es heisst (Bhag. G. 4, 11):


»Die liebe ich, die hin zu mir sich wenden,

Und in dem Masse, wie sie solches thun.«

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 311-312.
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