[444] 1. tathâ prâṇa
ebenso die Lebensorgane.

Die Widersprüche der Schriftstellen in Betreff des Äthers (Raumes) und der übrigen Elemente sind im dritten Pâda gehoben worden; im vierten sind nunmehr diejenigen in Betreff der Lebensorgane zu heben. – Zunächst also wird in Stellen wie: »dasselbige erschuf das Feuer« (Chând. 6, 2, 3) und: »fürwahr aus diesem Âtman ist der Äther entstanden« (Taitt. 2, 1), wo die Weltschöpfung abgehandelt wird, eine Entstehung der Lebensorgane nicht erwähnt. Ja, zuweilen wird erwähnt, dass dieselben unentstanden seien; so wenn es heisst: »Nichtseiend fürwahr war diese Welt zu Anfang. Da sagen sie: was war denn dieses Nichtseiende? – Wahrlich, jene Ṛishi's war das Nichtseiende zu Anfang. – Da sagen sie: wer sind jene Ṛishi's? – Fürwahr, die Ṛishi's sind die Lebensorgane« (Çatap. br. 6, 1, 1, 1.) Hier wird gelehrt, dass die Lebensorgane vor der Weltschöpfung | seiend vorhanden gewesen seien. An andern Stellen hinwiderum wird eine Schöpfung auch der Lebensorgane gelehrt: »wie aus dem Feuer die winzigen Fünklein entspringen, also auch entspringen aus diesem Âtman alle Lebensgeister« (Bṛih. 2, 1, 20); – »aus[444] ihm entsteht der Odem, der Verstand und alle Sinne« (Muṇḍ. 2, 1, 3); – »die sieben Hauche sind aus ihm entsprungen« (Muṇḍ. 2, 1, 8); – »da schuf er den Odem, aus dem Odem den Glauben, das Offene, den Wind, das Feuer, das Wasser, die Erde, das Sinnesorgan, das Manas und die Nahrung« (Praçna 6, 4.) Da die Schriftstellen hier und anderweit sich darüber widersprechen, und ein Grund, sich für das eine oder das andere zu entscheiden, nicht ersichtlich ist, so liesse sich annehmen, ›dass hierüber nichts feststeht‹; oder auch man könnte annehmen, ›da eine Schriftstelle die Lebensorgane vor der Weltschöpfung als seiend vorhanden lehre, so sei die Stelle von der Schöpfung der Lebensorgane uneigentlich aufzufassen‹. – Darauf bemerkt der Lehrer: »ebenso die Lebensorgane«. Aber wie ist hier das Wort »ebenso« zurechtzulegen, da ein Vergleichbares im Vorhergehenden nicht vorhanden ist? Am Schlusse des unmittelbar vorhergehenden Pâda handelte es sich um eine Kritik der Behauptung, dass es eine Vielheit allgegenwärtiger Seelen geben könne. Das kann schon nicht das Vergleichbare sein, weil die Ähnlichkeit fehlt; denn nur wo eine Ähnlichkeit | vorliegt, ist ein Vergleich möglich, wie wenn man sagt: Balavarman ist gleichwie ein Löwe. – Man könnte meinen: ›der Vergleich bezwecke, die Ähnlichkeit mit dem »Unsichtbaren« hervorzuheben; so wie nämlich das Unsichtbare, weil es in Gegenwart aller Seelen entspringe, nicht individuell bestimmt sei, ebenso seien auch die Lebensorgane der Gesamtheit der Seelen gegenüber nicht individuell bestimmt.‹ – Aber auch das ist schon damit, dass die Leiber nicht individuell bestimmt sind, ausgedrückt, wäre also eine blosse Wiederholung. Weiter kann es aber auch nicht die individuelle Seele sein, mit welcher die Lebensorgane verglichen werden, weil dem die endgültige Meinung widerspricht, nach welcher die individuelle Seele für unentstanden erklärt wird, während für die Lebensorgane gerade eine Entstehung gelehrt werden soll. Somit scheint es, dass das Wort »ebenso« ohne Zusammenhang steht. Aber dem ist doch nicht so, denn die Verbindung kann sich auch auf ein solches Vergleichbare beziehen, welches citatweise herangezogen wird. Nun findet sich ein Schriftwort citiert, welches die Entstehung der Lebensorgane behauptet, nämlich das Wort: »also auch entspringen aus diesem Âtman alle Lebensgeister, alle Welten, alle Götter und alle Wesen« (Bṛih. 2, 1, 20); hier ist der Sinn: so wie die Welten u.s.w. aus dem höchsten Brahman entspringen, ebenso auch die Lebensorgane. | Auch heisst es: »aus ihm entsteht der Odem, der Verstand und alle Sinne; aus ihm entstehen Äther, Wind und Feuer, das Wasser und, alltragende, die Erde« (Muṇḍ. 2, 1, 3); auch hier, so liesse sich die Sache auffassen, wird, ebenso wie für den Äther u.s.w., auch für die Lebensorgane eine Entstehung gelehrt. Oder vielleicht kann man es machen, wie an der Stelle: »und das Missgeschick[445] beim Trinken, so wie dieses« (Jaim. 3, 4, 32), wo ebenfalls eine Verbindung mit einem davon entfernt stehenden Vergleichbaren [nämlich mit Jaim. 3, 4, 28] in Anwendung gebracht wird, und so auch hier die Sache folgendermassen zurechtlegen: so wie die zu Anfang des vorhergehenden Pâda besprochenen Elemente, Raum u.s.w., als Umwandlungen des höchsten Brahman erkannt wurden, – »ebenso« sind auch die Lebensorgane Umwandlungen des höchsten Brahman. – ›Aber was für ein Grund ist dafür, dass sie es sind?‹ – Nun, weil die Schrift es lehrt. – ›Aber wird nicht, wie gesagt, an manchen Stellen [die von der Weltschöpfung handeln] die Entstehung der Lebensorgane nicht gelehrt?‹ – Dieses Bedenken ist unangemessen, weil sie an andern Stellen gelehrt wird; denn wenn irgendwo etwas nicht gelehrt wird, so wird dadurch nicht ausgeschlossen, dass es an einem andern Orte gelehrt werden könne. Es bleibt also dabei, dass so wie der Raum u.s.w. auch die Lebensorgane entstanden sind, weil es eben wohl von der Schrift gelehrt wird.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 444-446.
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