[45] Die Welt regiert sich selbst nach ewigen Gesetzen.
Cotta
Jeder Schulknabe weiß heute, daß der Himmel keine über die Erde hergestülpte Glocke ist, sondern daß wir bei seiner Betrachtung in einen unermeßlichen leeren Raum ohne Anfang und Ende hineinblicken, in welchem nur an einzelnen zerstreuten und fast unendlich weit voneinander entfernten beschränkten Orten sogenannten Weltinseln oder Gruppen von Weltkörpern die ungeheure Öde unterbrechen. Aus einer formlosen Dunstmasse müssen sich durch Entstehung einzelner um sich selbst rotierender Punkte jene einzelnen Weltkörper und Sonnensysteme gebildet und allmählich zu runden, kompakten Massen verdichtet haben. Diese Massen sind in einer steten Bewegung im Weltraum, einer Bewegung, welche sich aufs mannigfaltigste kombiniert und kompliziert, aber doch in allen ihren Äußerungen und Modifikationen nur Folge eines einzigen allgemein geltenden Naturgesetzes, des Gesetzes der Anziehung ist. Diesem Gesetze, welches dem Stoff inhärent ist und an jedem Teilchen desselben unter unsern Augen beobachtet werden kann, folgen alle jene noch so großen oder kleinen Weltkörper ohne Widerstreben und ohne eine noch so geringe Abweichung, welche eine willkürliche Ausnahme begründen würde. Mit mathematischer Schärfe und Gewißheit lassen sich alle diese Bewegungen erkennen, bestimmen, vorhersagen. Soweit das Fernrohr des Menschen reicht und imstande war, die Gesetze des Himmels zu erkennen – und man hat dieses auf[45] Billionen und Trillionen Meilen weit vermocht – begegnete man stets nur diesem einen Gesetze, derselben mechanischen Anordnung, derselben mathematischen Formel, den nämlichen der Berechnung unterliegenden Vorgängen. Nirgends aber zeigte sich die Spur eines mit Willkür begabten Fingers, welcher den Himmel geordnet und den Erden oder Kometen ihre Bahnen angewiesen hätte. »Ich habe den Himmel überall durchsucht«, sagte der große Astronom Lalande, »und nirgends die Spur Gottes gefunden.« Und als der Kaiser Napoleon den berühmten Astronomen Laplace fragte, warum in seinen System der himmlischen Mechanik nirgends von Gott die Rede sei, antwortete derselbe: »Sir, je n'avais pas besoin de cette hypothèse!« – Je weiter die Astronomie in ihrer Kenntnis von den Gesetzen und Vorgängen des Himmels voranschritt, um so weiter drängte sie die Idee oder die Annahme einer übernatürlichen Einwirkung zurück, um so leichter wurde es ihr, die Entstehung und Bewegung der Weltkörper auf die einfachsten, durch den Stoff selbst möglich gemachten Vorgänge zurückzuführen. Die Anziehung der kleinsten Teilchen ballte die Weltkörper zusammen, und die Gesetze der Anziehung in Verbindung mit ihrer ersten Bewegung bewirkten die Art ihrer gegenseitigen Umdrehung, welche wir heute an ihnen bemerken. Freilich wollen manche, an diesem Punkt angelangt, wiederum den ersten Bewegungsstoß nicht in der Materie selbst suchen, sondern ihr von einem überirdischen Finger herleiten, welcher gewissermaßen in dem allgemeinen Weltbrei gerührt und der Materie damit ihre Bewegung verliehen habe. Aber auch dieser unendlich weit entfernten Position vermag sich die persönliche Schöpferkraft nicht zu halten. Die ewige Materie mußte auch[46] einer ewigen Bewegung teilhaftig sein. Warum sie gerade zu einer bestimmten Zeit jene bestimmte Art der Bewegung annahm, bleibt vorerst allerdings unserer näheren Einsicht verschlossen, aber die wissenschaftliche Forschung steht noch nicht an ihrem Ende, und es ist nicht unmöglich, daß sie auch noch über den Zeitpunkt der ersten Entstehung der einzelnen Weltkörper hinaus ihre Leuchte trage. Soviel Recht haben wir aber, nach Analogie des bis jetzt Erforschten zu sagen, daß auch jene Vorgänge keine Ausnahme von den allgemeinen, dem Stoff inhärenten Gesetzen gemacht haben können und daß in diesem selbst die Ursache zu jener bestimmten Art der Bewegung gelegen haben muß. Wir haben um so mehr hierzu das Recht, als die vielen Unregelmäßigkeiten, Zufälligkeiten und Zweckmäßigkeiten und Zweckwidrigkeiten in der Anordnung des Weltganzen und der einzelnen Weltkörper untereinander auch ganz direkt Gedanken an eine persönliche Tätigkeit bei jener Anordnung ausschließen. Wenn es einer persönlichen Schöpferkraft darauf ankam, Welten und Wohnplätze für Tiere und Menschen zu schaffen, warum alsdann jener ungeheure, wüste, leere, nutzlose Weltraum, in dem nur hie und da einzelne Sonnen und Erden als fast verschwindende Pünktchen schwimmen? Warum sind die andern Planeten unseres Sonnensystems nicht so eingerichtet, daß sie ebenfalls von Menschen bewohnt werden können? Warum ist der Mond ohne Wasser und Atmosphäre und darum jeder organischen Entwicklung feindlich? Wozu die Unregelmäßigkeiten und ungeheuren Verschiedenheiten in der Größe und Entfernung der einzelnen Planeten unseres Sonnensystems? Warum fehlt hier jede Ordnung, jede Symmetrie, jede Schönheit? Warum sind alle Vergleichungen, Analogien, Spekulationen, welche man auf die[47] Zahl und Bildung der Planeten baute, zuschanden geworden? – Weil das zufällige Begegnen der Elemente keine höhere Ordnung kennt und weil ein zertrümmerter Stein nicht in Stücke von regelmäßiger Gestalt und Zahl auseinanderfliegt. Warum schrieb die Schöpferkraft nicht ihren Namen mit Zügen von Sternen an den Himmel? Warum gab sie den Weltkörpersystemen nicht eine Anordnung, aus welcher ihre Absicht und Ansicht unzweifelhaft erkannt werden müßte? – In der Stellung und den Verhältnissen Erde zur Sonne, Mond und Sternen wollen beschränkte Geister die zweckmäßige Fürsorge des Himmels erblicken. Aber sie bedenken nicht, daß die Folge und Ursache verwechseln und daß wir eben nicht oder anders organisiert wären, wenn die Schiefe der Ekliptik eine andere oder nicht vorhanden wäre. Jene oben gestellten Fragen ließen sich beliebig vermehren, aber ihre Vermehrung würde nichts an dem Resultate ändern, daß die empirische Naturforschung, wo sie auch sucht, nirgends die Spur supranaturalistischer Einwirkungen in Raum oder Zeit zu finden vermag.[48]
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