Schöpfungsperioden der Erde

[49] Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt ewig.

Bibel


Über die Enstehungs- und allmähliche Fortbildungsgeschichte der Erde haben die Forschungen der Geologie ein höchst interessantes und wichtiges Licht verbreitet. Aus den Steinen und Schichten der Erdoberfläche und aus den in ihnen gefundenen Resten und Trümmern organischer Wesen, von denen dieselbe früher bewohnt war, lasen die Geologen, wie aus einer alten Geschichtschronik, die Geschichte der Erde. In dieser Geschichte nun fand man die deutlichen Zeichen höchst gewaltiger und in einzelnen Abschnitten aufeinander folgender Erdrevolutionen, bald durch die Kräfte des Feuers, bald durch die des Wassers, bald durch das Zusammenwirken beider hervorgebracht. Diese Umwälzungen gaben durch das anscheinend Plötzliche und Gewaltsame ihres Eintritts der orthodoxen Richtung in der Naturforschung einen willkommenen Vorwand, an das Dasein übernatürlicher Kräfte zu appellieren, durch deren Anstoß oder Veranlassung jene Revolutionen hervorgebracht sein sollten, um die Erde durch allmähliche Übergänge einer Gestaltung für gewisse Zwecke entgegenzuführen; es sollte eine fortgesetzte periodenweise Schöpfung mit jedesmaligen neuer Erschaffung organischer Wesen und Geschlechter stattgefunden haben, es sollte die Bibel recht haben, welche erzählt, daß Gott eine Sündflut über die Erde geschickt habe, um das in Sünden versunkene menschliche Geschlecht zu verderben[49] und ein neues an seine Stelle treten zu lassen. Es sollte Gott mit eigner Hand bald Gebirge aufgerichtet, bald Meere geebnet, bald Organismen geschaffen haben. Alle diese Ideen nun von dem Wirken unmittelbarer und übernatürlicher Kräfte in der Entwicklungsgeschichte der Erde haben sich im Angesichte einer kühleren Betrachtung als Illusionen gezeigt, und die neuere Entwicklung der geologischen Wissenschaften hat einen Triumph über jene Idee gefeiert, indem sie erkannte, daß die ganze wissenschaftliche Anschauungsweise der Erdenentwicklung, welche ihr zugrunde lag, eine unrichtige sei. So sehr es auch auf den ersten Anblick den Anschein haben mag, als müßten die Veränderungen, deren Spuren wir an der Erdoberfläche wahrnehmen, plötzlichen und allgemeinen gewaltsamen Erdrevolutionen ihren Ursprung verdanken, so sehr lehrte doch im Gegenteil eine reifere Überlegung und Beobachtung, daß der größte Teil dieser Veränderungen nichts anders als die Folge einer allmählichen und langsamen, aber durch ungeheure Zeiträume sich bewegenden Aktion natürlicher Kräfte ist – einer Aktion, deren fortdauernde Wirkungen wir tagtäglich noch in unserer nächsten Umgebung zu beobachten imstande sind, aber wegen der Kürze der Zeit in so unendlich verkleinertem Maßstabe, daß uns diese Wirkungen nicht auffallend werden. »Denn die Erde«, sagt Burmeister, »ist lediglich durch Kräfte erzeugt, welche wir noch heute selbst in entsprechender Stärke an ihr tätig finden; sie ist nie wesentlich gewaltsameren oder überhaupt anderen Entwicklungskatastrophen unterworfen gewesen; dagegen ist der Zeitraum, in welchem die Umänderung erfolgte, ein ganz unmeßbarer usw. Das Ungeheure und Überraschende des irdischen Ausbildungsprozesses liegt nur in der immensen Zeitdauer, innerhalb welcher[50] er erfolgte usw.« Ein Tropfen Wasser höhlt einen Stein aus. So können anscheinend sehr schwache und kaum bemerkliche Kräfte durch die Länge der Zeit unglaubliche und anscheinend wunderbare Wirkungen erzeugen. Wie die Wasserfälle des Niagara ihr Flußbett durch eine Tausende von Jahren dauernde Arrosion stundenweit nach rückwärts ausgewaschen haben, und zwar durch feste Felsen hindurch, ist bekannt. Fortwährend verwandelt sich unsere Erde vor unsern Augen wie früher; fortwährend entstehen Erdschichten, brennen Vulkane, zerreißen Erdbeben den Boden, entstehen und versinken Inseln, tritt das Meer vom festen Boden zurück und überschwemmt andere Strecken. Wir nun sehen heute alle diese langsamen und lokalen Wirkungen, welche Milliarden von Jahren hervorgebracht haben, in einem Gesamtbilde vereinigt und können uns daher des Gedankens nicht erwehren, hier müßten unmittelbare Eingriffe geschehen sein, während uns nur natürliche Kräfte umgeben. Eben die ganze Wissenschaft von den Entwicklungsverhältnissen der Erde ist ja an sich schon der gewaltige Sieg über jede Art von außerweltlichem Autoritätsglauben. Gestützt auf die Kenntnis der uns umgebenden Natur und der sie beherrschenden Kräfte war diese Wissenschaft imstande, die Geschichte des Geschehens bis in unendliche Zeiträume rückwärts mit annähernder Genauigkeit, oft mit Gewißheit, zu verfolgen und zu bestimmen. Dabei hat sie nachgewiesen, daß überall und jederzeit in dieser Geschichte nur diejenigen Stoffe und Naturkräfte tätig waren, von denen wir heute noch umgeben sind. Nirgends stieß man auf einen Punkt, an dem man genötigt gewesen wäre, der wissenschaftlichen Forschung Halt zu gebieten und den Eingriff übernatürlicher[51] Kräfte zu substituieren, und nirgends und niemals wird dieses geschehen! Überall konnte man aus der Kombination natürlicher Verhältnisse die Möglichkeit der sichtbaren Effekte nachweisen oder sich vorstellen; überall fand man dieselben Gesetze, dieselbe Regel, denselben Stoff! »Die geschichtliche Forschung (über die Entstehungsgeschichte der Erde) hat den Beweis geführt, daß Sonst und Jetzt auf ganz gleicher Basis ruhen; daß die Vergangenheit in ähnlicher Weise sich aufgewickelt hat, wie die Gegenwart weiterrollt, und daß die Kräfte, welche auf unserer Erde wirksam gewesen sind, von jeher dieselben blieben« (Burmeister). Somit bedarf es für einen aufgeklärten Verstand auch nicht mehr jener gewaltigen Hand, welche von außen hereingreifend die glühenden Geister des Erdinnern zu einem plötzlichen Tumult aufrührt, welche die Gewässer als Sündflut über die Erde stürzt und den ganzen Bau, wie weichen Ton, zu ihren Zwecken zurechtknetet. – Welche Abenteuerlichkeit und Ungereimtheit der Vorstellung liegt überdem darin, von einer schaffenden Kraft zu reden, welche die Erde und ihre Bewohner durch einzelne Übergangsstufen und ungeheure Zeiträume hindurch zu stets entwickelteren Formen geführt habe, um sie am Ende zu einem passenden Wohnplatz für das zuletzt auftretende Glied der Schöpfung, für das höchstorganisierte Tier, für den Menschen, werden zu lassen! Kann eine willkürliche und mit der vollkommensten Macht ausgerüstete Kraft solcher Anstrengungen bedürfen, um ihren Zweck zu erreichen? Kann sie nicht unmittelbar und ohne Zögern tun und schaffen, was ihr gut und nützlich scheint? Warum bedarf sie der Umwege und Sonderbarkeiten? Nur die natürlichen Schwierigkeiten, welche der Stoff bei der allmählichen und unbewußten Kombination[52] seiner Teile und der Gestaltung seiner Formen findet, können uns das Eigentümliche jener Entstehungsgeschichte der organischen und unorganischen Welt erklären.

Von der Größe der Zeiträume, welche die Erde bedurfte, um ihre heutige Gestalt zu erlangen, kann man sich einen ungefähren oder annähernden Begriff machen, wenn man an die Berechnung denkt, welche die Geologen für einzelne Phasen derselben, namentlich für die Bildung der einzelnen Erdschichten, gemacht haben. Die Bildung der sogenannten Steinkohlenschicht allein erforderte nach einigen Berechnungen neun Millionen Jahre, und bis die ursprünglich glühende Erde von einem Temperaturgrad von 2000 Graden auf einen solchen von 200 Graden sich abkühlen konnte, müssen nach der Berechnung von Bischof 350 Millionen Jahre verflossen sein. Man weiß, daß ganze Berge und Gebirgsschichten aus den Kieselpanzern mikroskopischer, d.h. mit bloßem Auge unsichtbarer Tierchen, sogenannten Infusorien, bestehen. Welche unendlichen Zeiträume mußten nötig sein, um solche Bildungen entstehen zu lassen! Aus diesen Beispielen, welche wir beliebig vermehren könnten, mag ungefähr die Ausdehnung jener Zeiträume ersichtlich werden. Sie sind imstande, uns noch einen anderweiten Fingerzeig zu geben. Im Verein mit den maßlosen Entfernungen, welche die Astronomen im Weltall ausgerechnet haben und vor denen sich unsere Phantasie zu verwirren beginnt, deuten diese fast unendlichen Zeiträume auf die Notwendigkeit, die Unbeschränktheit von Zeit und Raum anzuerkennen, auf Ewigkeit und Unendlichkeit. »Die Erde, als materielle Existenz, ist in der Tat unendlich; nur die Veränderungen, welche sie erlitten hat, lassen sich nach endlichen, d.h. zeitlichen, Abschnitten einigermaßen bestimmen.« (Burmeister) Sollten[53] die Begriffe der Religion, welche jederzeit Gott als ewig und unendlich bezeichneten, in ihrer Konsequenz etwas voraus haben vor den Anschauungen der Wissenschaft? Sollte jene finstere Pfaffenwut, welche die Ewigkeit der Höllenstrafen erfand, an Kühnheit des Gedankens die Naturforschung übertreffen? »Was man auch reden mag vom Untergange der Welt, es ist alles ebenso vag wie die Sage vom Anfang, welche der kindliche Sinn der Völker sich ausgedacht hat; die Erde und die Welt sind ewig, denn zum Wesen der Materie gehört auch diese Qualität. Aber sie ist nicht unveränderlich, und darum, weil sie veränderlich erscheint, hält der kurzsichtige menschliche Blick, den wissenschaftliche Forschungen noch nicht aufgeklärt haben, sie auch für endlich und vergänglich« (Burmeister).[54]

Quelle:
Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Leipzig [o.J.], S. 49-55.
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